»Überholspur«

»Überholspur«

Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn das Leben an einem vorbeizieht, während man selbst das Gefühlt hat, auf der Stelle zu treten? Wir befinden uns inmitten des neuen Semesters, irgendwo zwischen FOMO und Jahresende. Die Zeit scheint zu rennen und wir laufen ihr hinterher.

von Carina Aigner

Wir sind eine Leistungsgesellschaft, Cortisol und Adrenalin unsere besten Freunde. Es ist Montag 7:00 Uhr und ich quäle mich aus dem Bett. Mein Schlaf wurde von Semester zu Semester immer unruhiger, weniger ergiebig. Also heißt es für mich wie jeden Morgen »but first coffee« und wenn der nicht wirkt, was bei meinem hohen Konsum nicht verwunderlich wäre, noch ein Energydrink hinterher. Der ist aber dann natürlich Zero, ich achte ja schließlich auf meine Gesundheit. Mit einem leichten Herzrasen, das ich inzwischen kaum mehr bewusst wahrnehme, mache ich mich auf den Weg zum Campus. Wenn der Bus halt nur so schnell fahren könnte, wie mein Herz pocht… An der Universität angekommen geht es dann direkt weiter: Seminar in W112, Vorlesung in H20, dazwischen kurz in die Mensa und anschließend noch einmal ans andere Ende vom Campus und wieder zurück. Ich hetze irgendwo zwischen c.t. und PT herum, ohne eigentlich noch mitzubekommen, was ich da genau treibe. Mein Geist und Körper funktionieren und ich werde von ihnen mitgezogen. Sie nehmen mich an der Hand, sodass ich mich selbst in diesem Chaos nicht verliere, obwohl ich mich schon öfter gefragt habe, ob nicht sie es sind, die mich nur zu oft auf falsche Pfade leiten… und plötzlich ist es aus unerklärlichen Gründen Abend. Ich blicke aus dem Fenster und bemerke, dass die Bäume schon längst ihre Blätter verloren haben. Wann ist es denn so schnell Herbst geworden? Beziehungsweise haben wir ja quasi schon Winter. Gefühlt lag ich noch gestern mit meinen Kommiliton:innen in der brütenden Sommerhitze an der Donau. Aber jetzt war Weihnachten schon näher als der letzte Juli, an den ich mich noch so präzise erinnern konnte.

Ich komme von links und überhole mein Leben, Hauptsache möglichst schnell und so viel mitnehmen, wie nur geht. Wenn ich die Wahl zwischen Schnellstraße und Panorama-Route hätte, würde ich natürlich Ersteres wählen. Das, was mich umgibt, kann ich auch später wahrnehmen. Doch wer sagt mir, dass es dieses später überhaupt gibt?

Tik-Tok, die Zeit rennt

Am Abend, also eigentlich eher schon nachts, wenn ich aus der Stadt oder von meinen extracurricularen Aktivitäten, – also Sport, Theater, Ehrenamt und Redaktion – nachhause komme, höre ich nicht auf zu rennen. Eigentlich sollte man denken, dass ich FOMO entgegenwirke, indem ich rausgehe und meine Jugend auslebe. Doch irgendetwas in mir möchte noch mehr als das. Meine Gedanken rattern weiter, mein Geist kann nicht mehr rasten. Ich habe verlernt wie man Pause macht. Ich denke nach, wie ich noch mehr machen könnte, aber es ist nun mal unmöglich einen Tag mit 27 Stunden zu planen, wenn er nur 24 hat.

Im Bett gehe ich dann auf Instagram, WhatsApp und Tik-Tok – Nachrichten abchecken und schauen, was ich während des Tages alles so verpasst habe. Stunden vergehen und ich finde mich irgendwo zwischen einem Livestream und tausenden von Reels wieder, die ich alle in einer ähnlichen Variante schon einmal gesehen habe. Trotz dessen erscheinen sie mir neu und ich möchte mehr davon sehen. Der Algorithmus kitzelt mein Dopamin-Zentrum, macht mir Hoffnung, dass ich beim nächsten Swipe auf ein kurzes Video treffe, das mein Inneres widerspiegelt, sodass ich mich verstanden fühle. Eigentlich schon seltsam, wie mich die Technik so fest im Griff hat.

Ich sehe Videos von tanzenden Menschen, semi-professionellen Chefköch:innen, die irgendetwas mit diesen 90-Cent-Ramen zubereiten, dazwischen noch ein paar coole cineastische Shots und diese Wie-führen-Sie-Ihr-Leben-besser-Videos, die mich darauf hinweisen, dass egal, wie ich mein Leben führe, ich im Endeffekt eh alles falsch mache. Natürlich löst Letzteres etwas in mir aus. Ich habe das Gefühl noch mehr aus meinem Tag herausholen zu müssen. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal Tagebuch geschrieben? Reicht 3x pro Woche Sport wirklich? Die Personen in diesen Videos gehen schließlich 5-6x pro Woche ins Gym, studieren nebenbei Vollzeit, arbeiten auf Teilzeitbasis und bauen sich parallel dazu ihre Selbstständigkeit auf. Wann hatte ich zum letzten Mal Me-Time? Achtsamkeit ist heutzutage doch so wichtig. Und nicht zu vergessen mein Sozial-, Beziehungs- und Familienleben – auch das findet statt, doch kann ich es aktuell nicht bewusst wahrnehmen. Ich weiß eigentlich nur, dass ich es habe.

Ich fahre an meinem Leben auf der linken Überholspur vorbei, aus Angst mich weiter rechts einzuordnen und etwas zu verpassen. Es könnte mich ja ausbremsen.

Foto von Luca Campioni auf Unsplash

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert