»Neuanfänge«

»Neuanfänge«

Jeder Tag kann ein Neuanfang sein, jede Woche, jedes Jahr, jede (Europa)wahl. Was, wenn man Neuanfänge, wenn man Veränderungen nicht mag? Eine Überlegung.

Von Jule Schweitzer

Meine Mutter sagt, ich konnte Veränderungen noch nie leiden. Darüber denke ich nach, weil gerade viel zu viel Kopf steht.

Sie meint spontan geänderte Jogging-Routen, Menschen, die aus meinem Leben gehen und Umzüge. Ich dachte immer, sie hätte recht. Ich schob es auf mein Sternzeichen, die Waage: die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, in einem Bild. Lieber auf vier Hochzeiten tanzen, als eine abzusagen. Lieber keine Entscheidung treffen, die etwas verändern könnte.

Und nothing changes if nothing changes, oder?

Aber da ist eine spannende Sache, die passiert, wenn man Neuanfänge nicht leiden kann: Es gibt sie trotzdem. Sie schleichen sich an, sie deuten sich an, oder sie kommen plötzlich und unaufhaltsam. Und dann hat man kein Mitspracherecht, keine Wahl und nur eine Möglichkeit: Sich anzupassen.

Und damit kommt der verrückte Teil: Ich hatte nie ein Problem damit, mich selbst zu verändern, meine Haare zu färben, zum Beispiel – lila, rot, orange, blond. Kein Problem mit der Permanenz von Tattoos. Ich liebe Silvester, ich liebe es, wenn der 01.01. auf einen Montag fällt: der perfekte geplante Neuanfang. Um 5 Uhr dreißig aufstehen (theoretisch), mehr trainieren, meditieren, mich mehr informieren. Gewohnheiten ändern, mich ändern. Kein Problem. Ich bin eine Wachsfigur, formbar, verformbar, immer wieder und so lange, bis ich zu allen Veränderungen passe, die geschehen können, bis ich für sie alle gewappnet bin (theoretisch).

Sich wappnen müssen wir uns aktuell immer wieder auch politisch, immer und immer wieder, leider. Und ich liebe die Kraft von Demo-Chören, die latente Hoffnung von Wahlen, zumindest, bis die Ergebnisse da sind. Diesen Sonntag: Die Europawahl, ein möglicher Neuanfang für Europa, alle fünf Jahre.

Ob die Europawahl Veränderungen bringt, in welche Richtung auch immer,  wird sich noch zeigen. Aber das Schlimmste, was man tun kann mit politischen Veränderungen, die gefährlich wirken, wie das Potsdamer Geheimtreffen oder Sylt-Parties mit Parolen, ist, sich anzupassen und immer wieder überrascht zu wirken über Veränderungen, die sich schon lange ankündigen. 22 Jahre habe ich Veränderungen ignoriert, vermieden und aufgeschoben und hinterher mit all meiner Kraft versucht, mich anzupassen. Mein Leben, die Europawahl: Was, wenn sich diesmal zwar alles verändert, aber ich nicht?

Beitragsbild: Ida Müermann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert