»Fernweh«

»Fernweh«

Und ich habe Fernweh ohne Ende. Fernweh für das Fremde, weil ich mir selbst fremd geworden bin. – AnnenMayKantereit

von Paula Dowrtiel

Ich stehe vor den Bahngleisen, die Schranke ist zu. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Durch die großen Fenster kann ich einzelne Menschen erkennen. Eine alte Frau liest eine zerknitterte Zeitung, ihre Brille sitzt tief auf der Nase. Hinter ihr sind ein Vater und sein kleines Kind, der Junge presst seine Backe gegen die Scheibe und schaut mich an. Durch das nächste Fenster sehe ich die Schaffnerin. Sie hilft einer jungen Frau beim Verstauen ihres großen roten Koffers. Fenster um Fenster. Bild um Bild. Aus Momentaufnahmen wird eine Art Daumenkino.

Wo fahrt ihr hin? 

Eine Sehnsucht überkommt mich. Ich wünschte ich wäre auch hinter einem dieser Fenster und würde jetzt ins Ungewisse fahren. Die Frau mit dem großen roten Koffer, vielleicht steigt sie heute noch in den Flieger in Richtung Süden. Irgendwo ans Meer, vielleicht Portugal. Ich schließe die Augen und sehe sie vor mir: Die schroffen Klippen, an denen die hohen Wellen des Atlantiks brechen und dahinter die endlose Weite des Ozeans. Die langen Haare der Frau werden vom kalten Januarwind zerzaust, aber ihr Gesicht ist von der Sonne ganz warm. Morgen wird sie die ersten Sommersprosse auf ihrer Nase finden. 

Wo kommt ihr her?

Der kleine Junge und sein Vater haben vielleicht schon ihre Reise hinter sich. Der erste gemeinsame Urlaub. Über ihren Köpfen liegen Skier in der Gepäckablage. Ein großes und ein kleines Paar. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge in einer der großen Gondeln in Richtung Zugspitze fahren. Auch hier klebt die kleine Backe des Jungens am Fenster. Mit jedem Höhenmeter erscheinen mehr und mehr Berge in seinem Blickfeld. Er fängt an die Skifahrer unter sich zu zählen. Eins, zwei, drei, vier. Oben angekommen fallen ihm dicke Schneeflocken ins Gesicht, er versucht sie mit seiner Zunge zu fangen. Die Gondel mit seinem kleinen Backenabdruck fährt wieder nach unten.

Was habt ihr gesehen?

Die Zeitung der alten Frau ist nicht ohne Grund so zerknittert. Sie steckt vielleicht schon seit mehreren Stunden in ihrem leicht überfüllten Rucksack. Dieses Jahr hat sie sich ihren großen Wunsch selbst erfüllt. Eine Sprachreise nach Rom. Schon seitdem sie ein Kind ist träumt sie von Italien, dem guten Essen, den schönen Stränden und der Sprache. Gestern hat sie sich dann zum ersten Mal getraut ihren Cappuccino nicht auf Englisch sondern Italienisch zu bestellen. »Vorrei un cappuccino senza zucchero. Grazie!« Die Zeitung hat sie sich heute morgen in einem kleinen Kiosk gekauft, sie soll eine Erinnerung sein. Die meiste Zeit der Zugfahrt hat die alte Frau aus dem Fenster geschaut. Kleine Häuser werden zu großen. Flache Hügel zu steilen Bergen. Der blaue Himmel wird grau und dann schwarz. Jetzt hält sie ihre Zeitung in der Hand, wenn sie rausschauen würde, dann könnte sie mich sehen. Hände in der Jackentasche. 

Fernweh

Der Zug wird immer schneller und die Fenster verschwimmen zu einem kontinuierlichen Lichtstrahl. Einen Augenblick später ist er weg. Ich spüre immer noch diese schwere Sehnsucht in mir. Fernweh. Ich wünsche mich weit, weit weg. Stattdessen stehe ich hier in der Dunkelheit und warte darauf, dass die Schranken sich öffnen.


Beitragsbild: Paula Dowrtiel

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