»Ich würde lieber über Heimatlosigkeit schreiben« – Lena Gorelik liest aus Wer wir sind

»Ich würde lieber über Heimatlosigkeit schreiben« – Lena Gorelik liest aus Wer wir sind

In Lena Goreliks autofiktionalem Roman Wer wir sind geht es um Heimatlosigkeit, um Jüdischsein, um Ankommen und Fremdbleiben. Im Rahmen der Vortragsreihe » Sichtbar – unsichtbar. Lebenswege jüdischer Frauen « las sie am 22. November in der jüdischen Gemeinde Regensburg.

von Anouk Sonntag

Schon unter normalen Umständen löst der bewaffnete Polizist vor dem jüdischen Gemeindehaus einen Kloß im Hals aus, aber in Anbetracht des aktuellen Krieges befällt mich beim Betreten des Gebäudes eine regelrechte Beklemmung. Ich gehe an den vielen Blumenkränzen vorbei in Richtung Eingang, muss kurz warten, bis die vorhergehende Personengruppe im Innern verschwunden und die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist. Erst dann öffnet sich das Eingangsportal und ich werde mit der nächsten Gruppe in das Gemeindehaus geschleust. Drinnen lockert sich die Stimmung, die Anwesenden freuen sich auf einen angenehmen Abend. Die Student:innen, die über die Ringvorlesung der Kulturwissenschaft hier sind, und ich drücken ziemlich den Altersdurchschnitt, der Großteil des Publikums ist weiblich gelesen. Viele sind gekommen, weil sie die mittlerweile in München lebende Autorin und ihre Texte bereits kennen und schätzen.

Nach ein paar einleitenden Worten von Seiten Frau Dr. Esther Gajeks des Lehrstuhls für Vergleichende Kulturwissenschaft und Lisa Unger, der Geschäftsführerin des Europaeums, gehört die Bühne ganz Lena Gorelik und ihrem Roman.

Mit elf Jahren hat Lena Gorelik ihr Zuhause im heutigen Sankt Petersburg mit allem, was dazu gehört, verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Nichts war danach noch dasselbe, es galt, nicht nur eine Sprache, sondern das Leben selbst neu zu lernen. Genau darum geht es in Wer wir sind.
Die Autorin beschreibt den Antisemitismus, den ihre Eltern in der Sowjetunion erfuhren, den sie selbst erfuhr, noch ohne ihn als solchen begreifen zu können, und der letztendlich der Grund für die Emigration ihrer Familie war. Sie beschreibt in sehr klarer Sprache ihre russische Erziehung, das unerreichbare Glück einer amerikanischen Barbiepuppe, wie sie zum ersten Mal eine Synagoge besuchte und anschließend alles las, was sie zum Holocaust finden konnte, statt in der Schule aufzupassen. Sie beschreibt wie sie, bevor sie in den Zug stieg, zum letzten Mal ihre Großeltern sah, ihre beste Freundin, ihre Hündin. Weiter wird der Prozess des Ankommens in Deutschland beschrieben, die Geflüchtetenunterkunft, in der alle Jüd:innen im selben Gebäude wohnten, in dem es einen kaputten Fußball und ein einziges Brettspiel mit einer deutschsprachigen Anleitung gab.

Lena Gorelik liest ohne lange Zwischenerklärungen, der Raum hängt an ihren Lippen – nicht zuletzt wegen der zutiefst komischen Passagen, dank derer immer wieder lautes Lachen den Saal erfüllt. Dennoch ist spürbar wie berührt das Publikum von der so eindrücklichen Erzählung ist. Eine Frau meldet sich anschließend, um ihrer Rührung Ausdruck zu verleihen. Eine weitere Person fragt nach Frau Goreliks heutiger Definition von Heimat. Einen Heimatbegriff lehne sie für sich ab, antwortet die Autorin wie aus der Pistole geschossen, sie weigere sich, sich mit einem Begriff auseinanderzusetzen, für den es einen Minister gibt. Lieber würde sie über Heimatlosigkeit schreiben, denn neben dem Lesen habe sie am allermeisten der Prozess der Migration geprägt.

Wer wir sind ist eine mutige Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und jüdischem Leben in Deutschland. Am 26.11. hat Lena Gorelik in Ingolstadt den Marie-Luise-Fleißer-Preis erhalten, außerdem wurde sie 2023 mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium sowie dem Retzhofer Dramapreis für junges Publikum ausgezeichnet. Noch bis Februar finden im Jüdischen Gemeindezentrum regelmäßig (kostenlose) Veranstaltungen zum Leben jüdischer Frauen statt. Auch wenn die Lesung am Mittwoch definitiv zu den Highlights gehört, lohnt es sich sicher, die nächsten Vorträge oder auch eine Führung zu Stolper- und Grabsteinen in Regensburg wahrzunehmen.


Beitragsbild: Abschnitt aus Plakat der Veranstaltung von Lena Gorelik

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