Patriarchy Chicken: Hot Girl Walk mit Ellenbogeneinsatz
Die Spielfiguren: Passant:innen. Das Spielfeld: Gehwege im Patriarchat. Das Spiel? Patriarchy Chicken.
Von Jule Schweitzer
»Stellt euch vor, ihr geht zu Fuß irgendwo hin und dann seht ihr schon mit Abstand, dass euch da jemand entgegen kommt, genau auf eurer Gehlinie«, schreibt meine Schwester vor ein paar Wochen in den Gruppenchat mit unseren vier besten Freundinnen.
»Meine Theorie ist (…) wenn ‘ne Frau kommt, dann weicht die so 8-10 Meter vor euch schon in eine Richtung aus. Wenn ein Mann kommt, dann rennt der in euch rein, oder ganz eng an euch vorbei, weil er wartet darauf, dass ihr ausweicht«.
Wir testen ihre Theorie in den nächsten drei Tagen gemeinsam: Während ich Männern ausweiche, bleibt sie an ihren Schultern hängen und stolpert von Gehsteig-Kanten. Ich warte auf sie, wir lachen. Unsere Freundinnen machen ähnliche Erlebnisse, wir diskutieren über den Sinn dieses Tests.
Ich google »Warum weichen Männer auf Gehwegen nicht aus?« und stelle fest, dass die Theorie ein Phänomen mit Namen ist: Man Bumping oder Patriarchy Chicken.
Die Spiegel-Autorinnen Wiebke Bolle und Inken Dworak haben sich bereits 2019 in den Hamburger Straßen in einen Selbstversuch des Nicht-Ausweichens begeben. Sie stellen die Hypothese auf, durch ihren Entschluss mit mehr Selbstbewusstsein zu gehen, da sie zunächst auf ihren Wegen die Massen teilen. Diese Hypothese verwerfen sie jedoch noch innerhalb der ersten 15 Minuten des Selbstversuchs mit den ersten Kontakten mit Männerschultern. Zwei Männer scheinen sogar lieber stehen zu bleiben und abzuwarten, bevor sie darauf kommen, selbst auszuweichen.
Wissenschaftliche Datenbanken geben mir keine Artikel oder Meta-Analysen darüber, warum Männer auf Gehwegen nicht ausweichen und Frauen schon (komisch), also kann man nur vorsichtig aus thematisch leicht verwandten Studien Rückschlüsse ziehen.
Denn, auch wenn Patriarchy Chicken mit Humor genommen werden kann und jede:r der/die das Spiel ausprobiert, bestimmt auch Lachen muss, wie meine Schwester und ich – versucht mal, nach dem Lesen dieses Artikels überhaupt noch euren Weg zu bestreiten, ohne darüber nachzudenken – gibt es einen Satz im Spiegel-Artikel, der mein Psychologie-Studentinnen-Hirn reizt: »Frauen sollten (…) ihren Raum einfordern, auf den eigenen Weg beharren, sich nicht verdrängen lassen«. Es gibt durchaus Studien der Sozialwissenschaften und -psychologie, die dieses Phänomen untersuchen.
Eine Möglichkeit, den Unterschied im Ausweich-Verhalten ansatzweise zu erklären, wäre das Thema Aggression – auch wenn das zunächst überspitzt klingen mag. Fokus ist hier die Bereitschaft, sich anrempeln zu lassen, anstatt dies einfach zu vermeiden. Der Geschlechterunterschied in der Aggression ist viel untersucht und noch nicht zu Ende erforscht. Bisher haben viele Studien ergeben, dass der Gesamtwert aggressiven Verhaltens bei Jungen (die auch eher direkt aggressiv werden) größer ist als bei Mädchen (die sich mehr indirekt aggressiv verhalten). Zudem scheinen Männer eher motiviert, sich offensiv zu verhalten, während Frauen zu defensiven Zwecken eher zur Aggression bereit sind.
Wie immer, wenn man ein bestimmtes Verhalten beobachtet, ist relevant, darauf hinzuweisen, dass Verhalten/Persönlickeit zu Teilen durch Biologie oder Genetik erklärt werden kann und zu Teilen auch durch die Erziehung bzw. Sozialisierung (nurture vs. nature-Debatte) – für alle, die die ganze Zeit klassische not all men Sätze im Kopf haben.
Es geht also auch (oder vor allem) darum, dass Frauen häufig dazu sozialisiert werden, nur nicht zu viel Platz einzufordern, zu laut zu sein, etc., während Männer es eher gewohnt sind, sich behaupten zu dürfen und in den Zweikampf zu gehen, anstatt auszuweichen.
Wie zu Beginn gesagt, gibt es keinen wissenschaftlichen Ansatz für die Verlässlichkeit des Spiels Patriarchy Chicken und vielleicht ist es der falsche Weg zu fragen, woher der Erfolg des Spiels kommt, sondern eher relevant zu Fragen, wofür das Spiel steht. Denn ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass einige Frauen, die das Spiel auf dem nächsten Weg zur Uni testen, Männer anrempeln werden. So ist das Spiel eher eine Metapher des Feminismus in seiner Bereitschaft, anzuecken, wo es sein muss und den Status quo zu hinterfragen, wo er gestern schon hätte hinterfragt werden sollen.
Beitragsbild: Alicia Steels I unsplash.com Zwei Frauen gehen in der Nähe von Essensständen spazieren Foto – Kostenloses Bild zum Thema London auf Unsplash
Für Interessierte:
»Man Bumping« auf Gehwegen: Was passiert, wenn eine Frau eine Stunde nicht ausweicht – DER SPIEGEL
Sozialpsychologie für Bachelor Sozialpsychologie für Bachelor | SpringerLink
Sex and Death: Gender Differences in Aggression and Violence heinonline.org/hol-cgi-bin/get_pdf.cgi?handle=hein.journals/intorgz69§ion=40