Diagnosen in der Psychotherapie – ein Kommentar

Diagnosen in der Psychotherapie – ein Kommentar

Inzwischen sind viele der psychotherapeutischen Diagnosen anerkannte Krankheitsbezeichnungen in unserer Gesellschaft. »Depression«, »Angststörung« oder »Persönlichkeitsstörung« sind längst keine Fremdwörter mehr. Doch was macht es mit Personen eine solche Diagnose zu erhalten und was sind Nachteile von diesem Schubladendenken? Ein kritischer Kommentar.

von Laura Kappes

Kurze Geschichte der Diagnosen

Bevor ich meine Meinung zu dem Thema darlege, möchte ich einen kleinen Exkurs dazu machen, wo die Diagnosen in der Psychotherapie herkommen. Sie haben ihren Ursprung in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). Darin waren ab 1900 zunächst rein schulmedizinische Krankheitsbilder geordnet, die als Todesursache in Frage kommen. Hier ging es um Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen und deren Auflistung. Wenn eine bestimmte Krankheit mit folgenden Symtomen vorliegt, führt das zum Tod. Dann wurden weitere Krankheiten und Verletzungen ergänzt, um Ärzt:innen die Suche nach einer Diagnose zu erleichtern. Mitte des 20 Jahrhunderts kamen schließlich die psychischen Krankheiten dazu. Es wurde also versucht psychopathologische Störungsbilder genau wie schuldmedzinische Krankheiten in Kategorien einzuordnen und deren Symptome festzulegen. Daraus folgend konnte man dann auch für psychische Krankheiten mehr oder weniger einheitliche Diagnosen vergeben. Diagnosen helfen zum einen Patient:innen dabei, sich selbst besser zu verstehen, indem sie sich auftretende Symptome oder Schwierigkeiten im Alltag erklären können. Das kann (zunächst) erleichternd sein. Zum anderen werden Diagnosen vor allem dazu genutzt, sich in Fachkreisen besser über Störungen und mögliche Behandlungsmöglichkeiten dazu austauschen zu können.

Eins, Zwei, Drei Diagnosen

Diagnosen als Orientierungshilfe für Behandelnde zu verwenden, ist grundsätzlich eine gute Idee. Leider funktioniert die Vergabe der Diagnosen in der Psychotherapie nicht so zuverlässig wie in der Schulmedizin (wobei auch dort Ärzte zu unterschiedlichen Diagnosen kommen). Gerade bei psychischen Störungen gibt es häufig nicht einen speziellen Grund oder ein physisches Korrelat für das Vorliegen einer Erkankrung. In der Psychotherapie passiert es daher häufig, dass Personen im Laufe einer Behandlung oder in verschiedenen Kliniken mehrere Diagnosen erhalten. Dies wird als Komorbiditäten bezeichnet. Bei einer Depression liegen die Komorbiditätsraten, also das Vorliegen mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung, zum Beispiel zwischen 60 und 72 %. Angsterkrankungen stellten dabei die häufigsten komorbiden Störungen dar (54 – 59 %). Das bedeutet, dass knapp über die Hälfte der Personen mit Depression ebenfalls eine Angststörung diagnostiziert hat (Quelle der Daten: Trinkler, Straß & Gumz, 2022). Wenn diese Diagnosen das Störungsbild einer Person passend beschreiben, ist das an sich ja nicht schlimm. Es zeigt sich jedoch häufig, dass die Diagnosen unsauber vergeben werden oder verschiedene Therapeut:innen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Damit verlieren die Diagnosen an Aussagekraft und stiften lediglich Verwirrung. Es kann nicht Ziel der Diagnosen sein, dass die Patient:innen am Ende mit einem Sammelsurium an Krankheitsbildern dastehen. Dies verschafft ihnen weder Klarheit noch ist es besonders hilfreich in der Therapie.

Identifikation mit Diagnosen

Ein großes Problem von einmal vergebenen Diagnosen in der Therapie ist es, dass sich Personen mit diesem Störungsbild identifizieren. Das bedeutet, die Krankheit wird zum Teil ihrer Persönlichkeit. Es heißt: »Ich bin depressiv.« Anders als bei rein physischen Krankheiten wird also die psychische Störung selbst Teil des Problems, indem sich eine Person gar nicht mehr vorstellen kann, wie ihre Persönlichkeit ohne diese Störung sein könnte. Das ist problematisch, weil es sehr schwierig ist, sich von einer Identifikation wieder zu lösen. Wir kreieren nach hypnosystemischer Sicht unser Erleben von Augenblick zu Augenblick selbst. Eine statische Diagnose ist daher einschränkend, weil sie nicht dynamisch ist. Eine Diagnose kann im System »hängen bleiben« und sich wie immer weiter selbst verstärken. Obwohl anderes Erleben möglich ist, bleibt die Identifikation mit der Diagnose und eine Person kann sich nicht weiterentwickeln. Hilfreich kann es zum Beispiel sein, eine innere Anteile-Sprache einzuführen. Damit heißt es dann: »Ein Teil von mir ist depressiv – nicht ich als ganze Person.« Das schafft mehr Spielraum, weil andere Eigenschaften einer Person ebenfalls in Anteilen repräsentiert werden können und so mehr Zugang zu eigenen Ressourcen geschafft werden kann. Dann gibt es zum Beispiel einen depressiven Anteil, aber ebenfalls einen künstlerischen oder organisierenden Anteil in der Persönlichkeit. Diese inneren Anteile sind jedoch sehr individuell und sollten mit jeder:m Klient:in einzeln erarbeitet werden.

Neue diagnostische Methoden

In den vergangenen Jahren sprechen sich immer mehr Therapeut:innen und Forscher:innen gegen das klassische System der Diagnosen aus. Es werden andere Methoden vorgeschlagen, wie zum Beispiel eine individuelle, auf die Patient:innen abgestimmte Analyse in Symptom-Netzwerken (z.B. Borsboom, 2017). Dort wird das Krankheitsbild einer:s Patient:in dann mit ihren individuellen Symptomen dargestellt und nicht nur in eine Schublade gesteckt. In der systemischen Therapie werden ebenfalls neue diagnostische Methoden entwickelt. Dazu gehört zum Beispiel die idiographische System-Modellierung (ISM nach Günther Schiepek). Ähnlich wie bei den Symptom-Netzwerken wird dort versucht intrapsychische Vorgänge in komplexen Zusammenhängen darzustellen. Therpeut:innen erarbeiten mit Klient:innen ein individuelles Modell, das innere Anteile und Symptome miteinander verknüpft, um so mehr Klarheit über die persönlichen Störungsursachen bekommen und Ansatzpunkte für Veränderung zu finden. Ich sehe in solchen Methoden eine wichtige Weiterentwicklung der Psychotherapie hin zu mehr Flexibilität und Patientenzentriertheit, weg von standardisierten und einschränkenden Diagnosen.

Foto: Agence Olloweb I Unsplash

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