Echo der Freiheit

Echo der Freiheit

„Das Einzige, was mir Kraft in diesen dunklen Zeiten schenkt, ist die Aussicht darauf, noch einmal in deine grünen Augen blicken zu können, mich darin zu verlieren und die Wahrheit zu erkennen, denn grüne Augen lügen nicht. Vor allem deine nicht, mein geliebter Freund. Du hast stets das Richtige in den Menschen gesehen und danach gehandelt.“

Von Carina Aigner

23.10.2093

Ich kann es spüren, der Sieg ist nah. Töne der Hoffnung schossen in den vergangenen Tagen durch die Stille, wie Patronen, deren Schärfe die Luft in zwei spalten konnte. Der Schrecken hallte durch das kaltgraue Gebiet auf dem wir uns seit Wochen befanden; gefangen zwischen Triumph und Tod. Während der Nieselregen den Boden versumpfen ließ, kämpften wir uns weiter nach vorne. Eine Einheit, getrieben von einer unersättlichen Flamme der Wut; Ärger über die Regierung, das totalitäre Regime, welches uns seitdem ich mich zurückerinnern kann mit allen erdenklichen Mittel zu unterjochen versuchte. Sie raubten uns die Identität.

Meine Freunde, meine Familie, ich habe sie vor meinen Augen fallen sehen, miterlebt, wie das Feuer in ihren Augen erlosch und ihre Körper auf dem Feld zurückblieben, leblos, alleine. Oh Etienne, mein Freund, ich hoffe, dass ich dich eines Tages wiedersehe, dich in meine Arme schließen und mit dir gemeinsam unseren Sieg zelebrieren kann. Dann können wir zusammen den Gesängen unserer Truppen lauschen, der Musik, die in ihren Herzen steckt und dort so tief verwurzelt weiterschlägt auch, wenn ihre Stimmen vom Staub bedeckt sind. Sollte ich, wie meine Kameraden, auf dem Feld fallen, ach, so bete ich dafür, dass du diese Zeilen findest und sie, wie unser Lied, unter den Menschen verbreitest. Lass sie durch seine Melodien das spüren, was es damals in uns ausgelöst hat. Erinnerst du dich noch daran, an den alten Schallplattenspieler auf Großvaters Dachboden? Es erscheint mir noch immer wie ein Wunder, dass sie ihn damals nicht entdeckten und mit sich genommen haben.

Etienne, ich höre Schritte von oben, das ist mein Zeichen. Die Truppen werden unruhig, der nächste Angriff naht. Der Krieg hat begonnen und wir sind mitten drin.

26.10.2093

Mein Freund, die Erde bebt, sie sind hier. Ihre Panzer rollen über das Feld. Ich habe Angst.

03.11.2093

Krieg, mein liebster Freund. Er bringt die dunkelste Seite in uns hervor, noch schwärzer als das, was uns im Jenseits erwarten wird. Das unendliche Nichts. Ich sehne mich danach.

Valerian verliert den Verstand. Wir mussten ihn an seinem Bett festketten, wie ein Tier, eine Bestie, traumatisiert von der Gewalt, die uns hier jeden Tag seit Monaten begegnet. Wer weiß, auf wen von uns er als nächstes losgehen wird. Das wäre nicht das erste Mal, dass wir einen unserer Kameraden an diesen unmenschlichen Zustand verlieren. Es sind nicht die körperlichen Wunden, die uns am meisten verletzen, sondern die Psychischen. Ihre Narben sitzen so tief, dass kein Arzt der Welt sie erreichen und keine Medizin sie heilen kann. Oh Etienne, meine Gedanken zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen und landen doch immer wieder bei dir. Bist du wohlauf? So sag es mir.

Durch die Lautsprecher dröhnt unser Lied. Es soll uns daran erinnern, wer wir sind und für was wir kämpfen. Auch Valerians Schreie werden von der Musik übertönt, ehe sie komplett verstummen. Heute, am 03. November, haben wir einen weiteren Kameraden an den Krieg verloren.

Du warst ein guter Mann.

11.11.2093

Etienne, ich glaube ich werde verrückt. Gestern habe ich einen Mann in der Infanterie gesehen, der so aussah wie du. Es wäre Wahnsinn, nein, gar Suizid, solltest du dich hier herumtreiben. Du bist viel zu zart für den Krieg und würdest unter dessen Last zerbrechen.

Die Nächte werden kälter, doch kühlt unser Feuer dadurch nicht aus. Ganz im Gegenteil, seine Flammen lodern so stark wie noch nie. Ich habe mir Valerians Jacke genommen, nachdem wir ihn gestern mit den anderen Männern begraben haben. Das Blut unserer Feinde klebt noch immer daran. Oder handelt es sich um seines, ich weiß es nicht und möchte es auch nie erfahren. Ich hoffe inständig, dass dein Blut nie an der Jacke des Feindes zu finden sein wird.

Um 19:05 Uhr stieg ein Leuchtfeuer am Horizont auf. Unsere Bodentruppen rücken vor. Sie marschieren auf eine bessere Zukunft zu, in der Musik nicht mehr verboten ist.

13.11.2093

Oh Franz, nun hat es auch mich an die Front verschlagen. Du kannst dir nicht vorstellen, was in unserer einst so idyllischen Kleinstadt vor sich geht, was dein Lied in Schutt und Asche zerfallen lässt. Ich wünschte, wir hätten diesen verdammten Schallplattenspieler nie entdeckt.

Die Kinder spielen den ganzen Tag Krieg. Sie erhoffen sich in ihrer infantilen Naivität, dass sie in den Bunker müssen und dort so lange verweilen, bis der Bombenhagel vorübergezogen ist. Und dein Lied? Du fragst dich bestimmt, was damit ist. Sie tragen es pfeifend auf ihren Lippen. Ich habe Angst, dass sie die Regierung entdeckt. Ein jeder Laut dieser todbringenden Melodie wird sanktioniert, jedoch nicht mit materiellen Strafen. Was genau hinter geschlossenen Türen geschieht, weiß niemand. Bisher kam keiner deiner Anhänger jemals wieder zurück. Du hast sie mit deinem Traum der Revolution in den Tod geschickt, wie auch mich. Ich kämpfe, weil ich weiß, dass es keinen anderen Weg gibt und ich werde sterben, weil die Chance für mich zu überleben aussichtslos ist. Das, was einst unser gemeinsamer Traum war, ist heute nicht mehr als Schall und Rauch.

14.11.2093

Etienne, mein Freund, oh du mein geliebter Freund. Patronenhülsen übersähen das Gebiet um uns herum. Bei jedem Schritt auf dem kalten Boden hört man ein leichtes eisernes Knarzen, ehe die Hüllen unter unseren Schuhsohlen im Morast verschwinden. Im Untergrund versteckt überdauern sie nun, bis man sie eines Tages durch Zufall wiederentdeckt und sich an die Zeiten unseres Triumphes zurückerinnern wird, an die Tage, an denen wir unsere Freiheit neu eroberten. Die Erde auf der wir uns bewegen, erzählt Geschichten. Wir müssen unsere Augen nur offen halten und ihren Worten lauschen, wenn sie zu uns spricht. Sie kann uns mit der Gegenwart konfrontieren oder Vergangenes für sich behalten, sie bringt die Dinge an die Oberfläche zurück, wenn die Zeit dafür reif ist. Nichts ist verloren, alles überdauert unter den Schichten aus Sand, Stein und Gras.

Auch wir stammen aus dem Untergrund, den Bunkern unter dem Dorf, dem Schutthaufen, der heute noch davon übrig ist. Sollen sie fallen und um ihr Leben betteln. Ihre kläglichen Schreie lösen ein wohliges Gefühl in mir aus. Diese gottverdammten Wichser der Regierung, ich will sie brennen sehen, dabei sein, wenn sie auf Knien bitten, man möge sie verschonen. Das sind keine Menschen. Das sind Monster mein geliebter Etienne. Du hast es auch gesehen, du hast gemeinsam mit mir den Traum der Revolution gelebt und schau wo wir heute stehen! Gemeinsam, Hand in Hand, stürzen wir die Obrigkeiten, die seit Jahrzehnten auf ihren fetten Ärschen im Parlament sitzen und sich an unserer Einfalt sattfressen. An dem Tag, an dem sie uns die Musik verbaten, die Möglichkeit uns zu entfalten, zu individualisieren, an diesem Tag haben sie ihr Schicksal selbst besiegelt, ihre Sterbeurkunden mit ihrem eigenen Blut unterschrieben!

Seit Tagen fühle ich mich so leer, gefühlskalt. Doch Emotionen sind auch nicht mehr als Nutten, jeden Tag wacht man neben einer anderen auf. Ich spüre wie der Krieg mich ändert, an meinem Wesen nagt und feilt. Doch macht mich das nur stärker und zeigt mir, wofür wir stehen, aus welchem Grund wir kämpfen. Das Einzige, was mir Kraft in diesen dunklen Zeiten schenkt, ist die Aussicht darauf, noch einmal in deine grünen Augen blicken zu können, mich darin zu verlieren und die Wahrheit zu erkennen, denn grüne Augen lügen nicht. Vor allem deine nicht, mein geliebter Freund. Du hast stets das Richtige in den Menschen gesehen und danach gehandelt.

21.11.2093

Genau an diesem Tag vor drei Jahren, Etienne, mein geliebter Etienne, haben wir diese Schallplatte gefunden, die seitdem alles verändert hat. Und heute hören wir die Menschen für uns singen, wie sie die Fesseln der Sklaverei zerbrechen und sich in den Kampf stürzen. Ihre Kampfesschreie werden mit den Windböen über das Feld getragen. Es ist wieder so kalt wie damals, erste Schneeflocken fallen vom Himmel herab und landen auf dem gefrorenen Boden. Der Wind bläst durch unsere Baracke, wie er es schon auf Großvaters Dachboden durch die zermarterten Bretter hindurch machte. Seine Wucht lässt die Gläser, in denen sich unsere letzten Vorräte befinden, klirren. Neben einem einsamen Glas mit Essiggurken lassen sich noch zwei Dosen Thunfisch und etwas Brot finden, meine Ration für eine ganze Woche. 

Aber das ist alles irrelevant, mehr brauchen wir nicht, denn heute rücken wir ein letztes Mal vor, ein allerletztes Mal hinterlassen wir unsere Fußstapfen im Schlamm, sodass nachfolgende Generationen ihnen folgen können. Die Tage werden wieder kürzer, doch fühlt sich die Zeit hier wie eine Ewigkeit an. Das Warten zerfrisst meinen Geist. Ich möchte nicht mehr länger tatenlos hier herumsitzen. Ich will ihre Mauern niederreißen und in ihre Städte einmarschieren, sie hinter Gitter bringen, diese elenden Verbrecher. Sie sollen für das büßen, was sie uns angetan haben, von ihrer eigenen Medizin kosten. Ich kann es kaum erwarten diese unsägliche Angst in ihren Augen zu erblicken, wenn wir triumphierend vor ihnen stehen, wenn wir… mein Körper beginnt vor Euphorie zu zittern, ich kann mich kaum mehr bändigen. Oh Etienne, mein geliebter Freund, bald sehen wir uns wieder. In nur wenigen Tagen, vielleicht auch nur wenigen Stunden, stehen wir einander endlich gegenüber. Deine Anwesenheit fehlt mir und doch fühlt es sich so an, als wärst du mir nah.

28.11.2093

Franz, ich habe dich heute fallen gesehen, vor meinen Augen, durch mein Visier. Dein Blut klebt noch an meiner Jacke, hinterließ Flecken auf dem Wappen der Regierung, das meine Brust einst in einem strahlenden Weiß zierte. Du musstest von der Bildfläche verschwinden, ehe du alles in eine ewige Verdammnis stürzen würdest. Dein Weg führte unausweichlich über Leichen, nun auch über deine eigene. Lass mir dir noch diese eine Frage stellen, die du mich einst fragtest, kurz bevor du gingst: Was ist eine Revolution ohne einen Anführer? Richtig, leichte Beute. Wir rücken noch heute vor. Ich kann es spüren, der Sieg ist nah.

Beitragsbild von Guille Álvarez

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