Alexithymie: Emotionale Leere kann krank machen   

Alexithymie: Emotionale Leere kann krank machen   

Wie geht es dir gerade? Bist du enttäuscht von dir selbst, weil du heute wenig für die Uni gemacht hast? Oder bist du gut drauf, weil jetzt der Feierabend mit deinen Freunden ansteht? Einige Menschen könnten diese Frage gar nicht beantworten – sie leiden an Alexithymie, auch Gefühlsblindheit genannt. Diese Persönlichkeitseigenschaft kann schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. 

von Anna-Lena Schachtner

Wenn wir eine Niederlage einstecken müssen – etwa wenn wir in einer wichtigen Prüfung schlechter abschneiden als gedacht –, werden wir von den unterschiedlichsten Gefühlen überflutet: Scham, Wut, Traurigkeit, womöglich auch Neid auf andere, die es besser gemacht haben. Vermutlich fällt es den meisten Menschen schwer, in solchen Situationen zu schildern, was genau in ihnen vor sich geht. Manche von uns können bei negativen wie positiven Erfahrungen allerdings gar nicht sagen, wie es ihnen gerade geht – diese Menschen haben eine hohe Ausprägung an »Alexithymie«. Der Begriff bezeichnet einen Mangel an Worten (»lexi«) für Gefühle (»thymia«). Es handelt sich dabei nicht um eine Diagnose, sondern um eine Persönlichkeitseigenschaft, bei der die eigenen Emotionen schlecht oder gar nicht beschrieben werden können. Außerdem erleben alexithyme Menschen ihre Gefühle in einem reduzierten Ausmaß und beschäftigen sich im Allgemeinen kaum mit ihrem Innenleben – daher wird Alexithymie auch als »Gefühlsblindheit« bezeichnet.

Alexithymie bedeutet allerdings nicht, dass die Betroffenen überhaupt keine Emotionen empfinden. Wenn eine bestimmte Situation etwas in ihnen auslöst, fühlen sie sich womöglich körperlich unwohl, können aber nicht sagen, woher dieses Gefühl kommt und was es bedeutet. So kann es auch sein, dass sie nach einem langen Arbeitstag patzig auf die Konversationsversuche des Mitbewohners reagieren, ohne zu wissen, was der eigentliche Grund für ihr Verhalten ist – etwa die Wut auf den Chef, der einen am Vormittag wegen eines Fehlers kritisiert hat.

Wurzeln der Alexithymie können in der Kindheit liegen

Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 10 bis 19 Prozent aller Menschen gefühlsblind sind – Alexithymie ist also keineswegs eine Randerscheinung. Wie alle Persönlichkeitsmerkmale handelt es sich dabei um ein Spektrum: Manche Personen haben nur eine schwache Tendenz zur Alexithymie; bei anderen ist sie sehr stark ausgeprägt.

Doch warum können einige Menschen ihre Emotionen nicht bewusst wahrnehmen? Darüber ist sich die Forschung noch nicht ganz einig. Vermutlich spielt eine genetische Veranlagung bei der Entwicklung von Alexithymie eine Rolle. Des Weiteren könnten die Ursachen in der Kindheit liegen: Ungünstig ist es etwa, wenn Eltern nur wenig Gefühle zeigen, kaum darüber reden und nicht angemessen auf die Emotionen ihres Kindes reagieren. Dadurch kann das Kind nicht lernen, die eigenen Gefühle zu verstehen. Neben emotionaler Vernachlässigung haben auch andere frühe Traumata wie Missbrauch gravierende Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung. Es könnte auch sein, dass Menschen noch im Erwachsenenalter als Reaktion auf belastende Lebensereignisse ein hohes Ausmaß an Alexithymie entwickeln, um sich vor extrem schmerzhaften Emotionen zu schützen.

Nicht nur Gefühlsduselei: Warum wir unsere Emotionen ergründen sollten

Warum ist es überhaupt so wichtig, sich Gedanken über Emotionen zu machen? Man könnte doch argumentieren, dass es vorteilhaft ist, nicht ständig von den eigenen Gefühlen abgelenkt zu werden? Das entspricht allerdings nicht ganz der Wahrheit: Zwar muss Alexithymie nicht unbedingt problematisch sein, wenn sie nur schwach ausgeprägt ist – doch wer gar keinen Zugang zu den eigenen Emotionen hat, hat eine höhere Anfälligkeit für psychische Erkrankungen.

So ist etwa das Kommunizieren und Teilen von Emotionen sehr wichtig, um eine enge Bindung zu einer anderen Person aufzubauen. Wer dazu nicht in der Lage ist, wird womöglich Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Zudem gibt es einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und psychosomatischen Beschwerden wie etwa chronischen Schmerzen. Ob Alexithymie tatsächlich die Ursache für die Symptome ist, konnte von der Wissenschaft noch nicht abschließend geklärt werden. Es wird jedoch spekuliert, dass die Schmerzen bei diesen Patienten unter anderem deshalb entstehen, weil sie negative Gefühle nicht von den körperlichen Empfindungen unterscheiden können, die damit einhergehen.

Außerdem steht ein hohes Ausmaß an Alexithymie mit psychischen Störungen wie Depressionen, Zwangs- oder Essstörungen in Verbindung. Auch hier ist noch nicht ganz klar, ob Alexithymie die Entstehung dieser Krankheiten begünstigt oder ob Menschen aufgrund der Entwicklung von psychischen Problemen alexithymer werden. Jedoch weisen einige Befunde darauf hin, dass gefühlsblinde Menschen tatsächlich mit höherer Wahrscheinlichkeit an Depressionen erkranken.

Kann Alexithymie behandelt werden?

»Wie fühlen Sie sich dabei?« – In jeder klischeehaften Darstellung einer Psychotherapiesitzung stellt die Therapeutin ihrem Klienten früher oder später diese Frage. Tatsächlich werden in der Behandlung von psychischen Störungen häufig die Emotionen der Patient:innen thematisiert. Das hat auch einen guten Grund: Ein besserer Zugang zu den eigenen Gefühlen kann dazu beitragen, psychische Probleme zu bewältigen. Um dies zu erreichen, sollen hoch alexithyme Personen im Rahmen der Therapie beispielsweise ein Tagebuch führen, in dem sie tägliche Situationen schildern und beschreiben, wie sie sich dabei gefühlt haben. Falls das zu schwerfällt, können Gruppentherapien hilfreich sein: Hier erfährt der Klient bzw. die Klientin, wie andere Patient:innen ihre Emotionen wahrnehmen. Komplett verschwinden wird die Alexithymie bei einer Person zwar nicht, weil sie eine sehr stabile Persönlichkeitseigenschaft ist – doch eine Psychotherapie kann dabei helfen, die eigenen Emotionen besser zu verstehen.

Beitragsbild: Alexander Krivitskiy I Pexels

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