»Filth is my life!« – Das anarchische Frühwerk des John Waters

»Filth is my life!« – Das anarchische Frühwerk des John Waters

John Waters ist eine Ikone des amerikanischen Kinos. Dabei zeigen seine Filme – und nicht zuletzt die eigene Person – wie sie eigentlich amerikanische Werte konterkarieren und spielerisch dekonstruieren. Erst mit Hairspray (1988), der 2002 in ein erfolgreiches Broadway-Musical adaptiert wurde, wurde auch Waters im Mainstream gefeiert. Heute sieht man ihn auf internationalen Festivals, er schreibt Bücher, ist bei Podcasts und Talk-Shows ein gern gesehener Gast sowie gelegentlich als Stand-up-Comedian unterwegs.

von Johannes F. Schiller

»I’ve always tried to please and satisfy an audience who think they’ve seen everything. I try to force them to laugh at their own ability to be shocked by something. This reaction has always been the reason I make movies«

John Waters

Anarchie = Gesetzlosigkeit, besonders in der politischen Theorie ein Synonym für Herrschaftslosigkeit

Es heißt, die Gesetzlosen ebnen den Weg für weitere Überschreitungen der Grenzen. In seinem anarchistischen Frühwerk hat John Waters sicherlich Grenzen überschritten. Noch heute wirken diese Filme unberechenbar scham- und hemmungslos. Waters steht wie kein anderer prototypisch für eine »Camp«-Ästhetik – im amerikanischen Underground- und B-Kino kann ihm wohl nur Russ Meyer das Wasser reichen. Susan Sontag hat sich mit dem Begriff in ihrem berühmten Essay Notes on »Camp« erstmals analytisch auseinandergesetzt. Camp geht über bloßen Kitsch hinaus. Er beschreibt ein (selbst-)ironisches Spiel mit ästhetischen Normen, speziell mittels Schock und Exzess. Man könnte von der intellektuellen Seite des Kitsches sprechen. Die ist sich ihrer »Geschmacklosigkeit« äußerst bewusst, unterwandert und verhöhnt Vorstellungen des ästhetisch Reizvollen. Wichtig ist bis heute ihre Affinität zur queeren Subkultur, für die Waters‘ Werke Kultstatus genießen. »For [Waters] camp attacks acceptable values, normal physical appearances, and conventional modes of behaviour«, wie Emanuel Levy in Gay Directors, Gay Films? darlegt.

Überlebensgroße Karikaturen

Eng mit John Waters kreativem Output verbunden sind die Dreamlanders, sein Team von schillernden Außenseitern und Beatniks. Im Mittelpunkt steht Drag Queen Divine (der Name selbst ist eine subversive Aneignung christlicher Theologie). Waters‘ Figuren sind überlebensgroße Karikaturen. Divine ist eine grelle Kreuzung aus »Elizabeth Taylor und Godzilla«, vulgär, garstig, zärtlich, pathetisch und grausam. In Filmen wie Multiple Maniacs (1970), Pink Flamingos (1972), Female Trouble (1974) oder Polyester (1981) wurde sie zur Punk-Ikone der Gegenkultur. Die Filme waren ein direkter Affront gegen die konservativen Werte der Mittelschicht und brachen praktisch jedes erdenkliche Tabu auf der Leinwand; von Inzest, Vergewaltigung und Masturbation bis hin zu Exhibitionismus, Kannibalismus und Koprophilie. Dass diese Szenen bis heute kaum von ihrer Schockwirkung eingebüßt haben, beweist wie singulär sie letztlich in der Filmgeschichte sind. Waters parodiert darin Gesellschaft und Kunst, um sein Publikum – und dazu zählen insbesondere die verhassten Hippies – abzuschrecken und anzuwidern.

Auffällig ist, dass seine frühen Arbeiten aus der eigenen Tasche heraus finanziert worden sind: Grobkörnige, verwackelte 16mm-Aufnahmen und der Einsatz teils wahlloser Zooms verleihen ihnen den voyeuristischen Anstrich von Home Movies. Dagegen sind die Dialoge (inklusive langer Monologe) geschliffen theatralisch. Trotz mangelnder Produktionsmittel –  oder gerade aufgrund dessen – war Waters bemüht so professionell wie möglich zu arbeiten. Improvisation war ausgeschlossen. Zu seinen großen Inspirationen zählten die Pioniere des queeren Undergroundkinos, besonders Kenneth Anger und Andy Warhol, die alle auf die praktikable Art des Drehens mit 16mm zurückgriffen.

Pink Flamingos: »…Exploitationfilme für Kunstkinos«

All jene Kernelemente kristallisieren sich in Pink Flamingos, der zu den langlebigsten »Midnight Movies« der 70er gehört. Wir folgen darin der Kriminellen Divine (untergetaucht unter dem bürgerlichen Namen Babs Johnson) und ihrer White-Trash-Familie, die in einem Wohn-Trailer außerhalb Baltimore, Maryland lebt. Da sind die infantile, Eier verschlingende Mutter (Edith Massey), ihr zurückgebliebener Hillbilly-Sohn Crackers (Danny Mills), der einen Fetisch für Hühnersex hat, und ihre ebenso bizarre Reisebegleiterin Cotton (Mary Vivian Pearce). Divine rühmt sich als »filthiest person alive«, ihr Beiname aus einem Boulevardblatt. Doch die Marbles (Mink Stole und David Lochary), Anführer einer lokalen Heroin- und Babyhändlerbande, wollen ihr diesen Ruf streitig machen. Divine muss nun alles daran setzen, diese in unflätigem und amoralischem Verhalten zu übertreffen. Denn die gottgewollte Ordnung der muss wiederhergestellt werden.  Sie ist die monströse Geächtete, die erst durch die obszöne Berufung geheiligt wird. Auf die Frage eines Reporters am Schluss, ob sie an Gott glaube, erwidert sie lauthals mit »I AM GOD!«.

In Female Trouble beweist Divine als Schulabbrecherin Dawn Davenport, dass Verbrechen und Schönheit zusammengehören. Ein exzentrisches Paar fördert diese neue Kunstform: »The worse the crime gets, the more ravishing one becomes«. Wenn Dawn am Schluss auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird, ist das für sie, als würde sie den Academy Award gewinnen – die höchste Stufe des Ruhms.

Was seine skandalisierenden Filme bei den Underground-Kinogängern so beliebt machte, ist die Tatsache, dass Waters beide Extreme mit einem Augenzwinkern versah. Er lässt sich vom Existenzialismus des europäischen Kunstkinos ebenso inspirieren wie vom viszeralen Primitivismus von Sex- und Gore-Filmen, die er in den Camp-Himmel des Schocks, des Exzesses und des schlechten Geschmacks katapultiert. Denn »schlechter Geschmack für mich ist Humor«. Waters und Divine setzten sich über gesellschaftliche Konventionen hinweg und definierten das Queer-Sein neu als etwas, das stolz, unverblümt und rebellisch war – wahrlich originell. Aus ihrer Zeit heraus gesehen, sind diese Filme ein Affront gegen jegliche Form der political correctness und moralischen Befindlichkeit. Heute dürfte ihre Einordnung durch die erhebliche Medienerfahrung keinerlei Probleme mehr bereiten. Sie rufen regelrecht zu einem (ästhetischen) Umsturz auf, wenn sie die Grundfeste einer empfindsamen und konformen Mainstream-Kultur zerrütten. Dieser sehr radikale Zugang ist heute noch genauso faszinierend wie vor fünfzig Jahren. Vielleicht gerade weil es heute schwer realisierbar wäre. Long live Divine!

Beitragsbild: eigenes Bild von Johannes F. Schiller

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