Feminis:muss: Mittwochmorgen

Feminis:muss: Mittwochmorgen

Ein Tag kann so unbedeutend und leise an uns vorbeiziehen, dass wir nur wenige Stunden später kaum noch sagen können, was an diesem Tag passiert ist. Andere Tage hingegen bleiben ein Leben lang wie eingebrannt in unserem Kopf, so als würden sie sich immer und immer wieder wiederholen. Mittwochmorgen.

von Fenja Siebels

Es ist mitten am Tag, mein Magen meldet sich. 

Nach einer erfolgreichen Beantragung eines neuen Reisepasses in Berlin-Schöneberg, ein Viertel, zu dem ich 45 Minuten von mir zuhause aus brauche, weil es mal wieder keinen Termin innerhalb der nächsten drei Monate in meinem Stadtteil oder überhaupt in irgendeinem anderen Bürgeramt gab, mache ich mich auf die Suche nach etwas zu Essen. Ich bummele ein bisschen die Straße rauf und entscheide mich gegen den Spinatbörek und für einen Cigköfte Wrap. Die Verkäuferin ist nervös und erklärt sich direkt mit den Worten: »Tut mir leid, ich bin total durch den Wind.« Nachdem ich sie frage was passiert sei, guckt sie mich an und sagt, dass kurz vor mir ein Mädchen hier war »wie du, dein Alter, so wie du!« Das Mädchen sei total verstört gewesen. Als sie es fragte was denn los sei und ob sie Hilfe bräuchte, druckste sie ein bisschen herum und sagte dann, dass sie eigentlich nur kurz was besorgen wollte. Ihre Stimme brach weg. In einem zweiten Anlauf kann sie das Geschehene in Worte fassen. Sie sei in Kreuzberg vor die Tür gegangen, um ein paar Erledigungen zu machen und dann haben sie zwei Hände gepackt und auf die Ladefläche eines Leihrad-Laders gezerrt. Auf der Ladefläche, die von einer Plane abgeschirmt war, wurde sie mehrmals vergewaltigt und gewalttätig zu Boden gedrückt. Mitten am Tag. Mitten in Deutschland. Mitten in Berlin. Mitten in Kreuzberg – eines der Einwohner:innenstärksten Bezirke. Etwa 15 Minuten später wurde sie dann am helllichten Tag in Schöneberg auf die Straße gesetzt, als sei nichts passiert. 

Ich bin sprachlos. Das? Hier in der Gegend? Schon klar, Berlin macht nicht gerade Schlagzeilen als ungefährlichstes oder nicht-kriminelles Pflaster Deutschlands. Aber trotzdem. Das Gefühl, dass die vielen Menschen einem die Sicherheit geben, weil irgendwer schon einschreiten wird, verlässt mich in dieser Sekunde. So etwas passiert in der Stadt, wo ich tausende Male nachts allein nach Hause gefahren bin, mich immer sicher gefühlt hatte.

Die Verkäuferin erzählt weiter, dass sie nicht wusste was sie machen sollte und die Polizei gerufen hat, das Mädchen hatte in ihrer Panik einen Rucksack mitgegriffen, darin befanden sich verschiedene Portemonnaies, Schüler:innenausweise, Kindersachen, Krempel. Direkte Hinweise auf den Täter leider keine. Das Nummernschild ist auch nicht bekannt. Die Polizei habe den Krankenwagen verständigt. Im Innenraum des Rettungswagens wird das Mädchen auf die Bare gelegt und das Sperma, das der Vergewaltiger ihr auf die Brust gespritzt hat, wird ins Labor geschickt. Sie wird ins Krankenhaus gebracht, damit eine gynäkologische Untersuchung gemacht werden kann. Sie wird weggefahren und die Polizei behält den Rucksack und einige ihrer Klamotten, die der Täter angefasst haben soll. Danach war sie weg, sagt die Verkäuferin noch. 

Das Gespräch hängt mir lange nach, bis zum Abend bin ich sehr unruhig und kann mich kaum konzentrieren. Auch Tage danach wandern meine Gedanken immer wieder zu dem Mädchen und der Verkäuferin, die alles so genau schilderte. Oft hatte ich den Gedanken, das passiere nur anderen. Doch in den letzten Monaten wurde aus diesen Gedanken immer öfter ein: Nein, es passiert hier und jetzt. Es passiert ihr. Es passiert mir. Es passiert dir.  Nicht nur sexuelle Gewalt, auch psychische Krankheiten, häusliche Gewalt oder gefährliche Sekten und Glaubensgemeinschaften können von einem Tag auf den anderen in dein Leben treten und die Grundlage, auf der sich unser Dasein befindet, brechen. Zuerst leise und dann immer lauter werdend, sammeln sich die Ereignisse, die meinem Umfeld und mir in den letzten Monaten widerfahren sind, formieren sich zu einer nicht enden wollenden Serie angsteinflößender Momente und Situationen. Es fühlt sich an wie eine Platte, auf der mensch immer gutgestanden hat, in ihre Robustheit und Tragfähigkeit vertraut hat. Doch dann bekommt diese Platte Risse, bis sie schließlich bricht. Mensch erkennt, wie fragil und dünn sie war, fällt, aber kurz davor hält mensch noch einen winzigen Moment inne – starr und regungslos vor Schock. Realisiert. 

Auf die Frage, ob es denn niemand gemerkt oder gesehen habe, sagte die Verkäuferin, dass das Mädchen meinte, es wäre alles so schnell gegangen und es war niemand in unmittelbarer Nähe – zumindest sofern sie sich erinnert. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen mehr aufeinander zu achten und aufzustehen für eine konsequente Strafverfolgung von Delikten sexueller Übergriffe. Diese laut machen und uns nicht schämen. Aufzustehen, wenn andere es nicht können und zu bestärken. So wie die Verkäuferin bei dem. 

Mädchen. Bestärken. Ermutigen. 

Beitragsbild: © Sergey Vinogradov | Unsplash

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