Wohnsinn-Kolumne: Gestatten, Ehepaar Elster

Wohnsinn-Kolumne: Gestatten, Ehepaar Elster

Für den dieswöchigen Wohnsinn melde ich mich aus dem Corona-Lager, das mein Freund und ich in seiner Wohnung aufgeschlagen haben. Von der kleinen Dachterrasse hat man nicht nur einen wundervollen Blick auf den Evangelischen Zentralfriedhof, sondern auch auf den immer grüner werdenden Innenhof mit all seinen tierischen BewohnerInnen.

von Lotte Nachtmann

Wie meine liebe Kolumnistinnen-Kollegin Selina vor ein paar Wochen, wurde auch ich kürzlich zur Beobachterin einer Geschichte aus der gefiederten Welt. Aufgrund der Tatsache, dass viele von uns momentan 95 Prozent ihres Tages zu Hause verbringen, hat sich auch die Zeit, die man prokrastinierend oder gelangweilt aus dem heimischen Fenster blickt, verlängert. Gerade in der Wohnung meines Freundes, in die ich mich für die Zeit der Ausgangsbeschränkungen einquartiert habe (zwecks nicht-Vereinsamung), bietet sich das dank der großen Fensterfronten zum Innenhof bestens an. Mit fortschreitendem Frühling werden nicht nur die hohen Bäume des Evangelischen Zentralfriedhofes im Hintergrund immer grüner, sondern auch alles andere Leben erwacht nach den wenn auch kaum kalten, jedoch aber dunklen Wintermonaten. So konnten wir, während mein Freund sich immer mehr mit dem Homeoffice anfreundete und ich mich in die Endphase meiner Hausarbeit stürzte, eine äußerst interessante Beobachtung machen. Immer wieder sahen wir ein Elsterpaar durch den Innenhof flattern. Herr und Frau Elster wirkten stets äußerst beschäftigt und interessiert an einer ganz bestimmten Stelle der Krone des Baumes, der dem zur Zeit gesperrten Spielplatz Schatten spendet.

Als unsere beiden neuen gefiederten Freunde anfingen, immer häufiger mit kleinen Ästchen im Schnabel gen Baumkrone zu fliegen, fingen wir an, Verdacht zu schöpfen. Das Elster-Paar schien guter Hoffnung zu sein und bereitete wohl das neue Eigenheim für das vollständige Familienglück vor. Mitte/Ende März konnte man dieses Schauspiel wundervoll beobachten, da die Äste noch ihr Blätterkleid entbehrten. Doch trotz stetigem Kommen und Gehen (oder besser gesagt Fliegen) konnten wir auch nach Tagen relativ wenige Fortschritte beim Nestbau beobachten. Wir befürchteten schon, dass Herr und Frau Elster noch sehr junge Eltern sind, die eher unerfahren an das Thema Nest herangingen. Was wenn die werdenden Eltern vor der Niederkunft (oder wie nennt man die »Geburt« von Eiern?) mit ihrem Bauvorhaben nicht fertig werden?

Natürlich schmissen wir gleich das allwissende Google an, das uns verriet, dass Elstern durchaus mehrere Nester gleichzeitig bauen und unterhalten, um sich bis zuletzt alle Optionen offen zu lassen. Nach und nach legten sich auch unsere Sorgen, denn man konnte zwischen den dichten Zweigen der Baumkrone erste Konturen eines durchaus beachtlichen Nestes beobachten. Fleißig schleppten Mama und Papa Elster immer mehr Zweige, Blätter und andere Dämmmaterialien an und stellten so Stück für Stück ihr Heim fertig. Für die nötige Privatsphäre hat – spätestens nach dem letzten Regenguss – die Natur selbst gesorgt. Inzwischen kann man das Hause Elster zwischen dem frischen hellgrünen Blattwerk kaum noch ausmachen. Das gefiederte Paar flattert immer noch eifrig hin und her und scheint die letzte Vorbereitungen zu treffen, bevor ihr Nest den Nachwuchs beheimaten wird.

So possierlich und faszinierend das Treiben des Elster-Paares auch zu beobachten ist, ein bisschen wehmütig wird es meinem Freund und mir dann doch hin und wieder. Das liegt nicht etwa an ersten Nachwuchs-Wünschen; das kann bei uns nun wahrlich noch einige Jahre warten. Nein, es ist der Anblick der scheinbar grenzenlosen Freiheit unserer fliegenden Freunde, die wann immer sie wollen überall hin schweben können. Wenn man selbst nur noch zum Einkaufen und Sporteln vor die Wohnungstür darf, der Heimaturlaub gestrichen wurde und man weiß, dass man zur Zeit eben nicht einfach mal kurz einen Ausflug ins Grüne machen sollte, kann man das unterschwellige Gefühl des Neides auf die Freiheit der wilden Tiere des Stadtdschungels kaum noch unterdrücken. Auf der anderen Seite lehrt uns das ganze auch, wie wertvoll unsere Bewegungsfreiheit, die wir sonst immer als selbstverständlich hingenommen haben, eigentlich ist. Deshalb versuchen wir nicht allzu wehmütig zu sein, wenn wir dem geschäftigen Elsterpaar zuschauen, zumal die beiden demnächst wahrscheinlich nicht mehr allzu viel von ihrer Freiheit genießen können, wenn es gilt, die hungrigen Schnäbel ihres Nachwuchses zu stopfen. Es bleibt also spannend im Hause Elster!

Nächste Woche gibt es dann wieder News aus einem anderen Quarantäne-Lager in Regensburg, nämlich der WG von Selina.

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