Die zweite Krankheit

Die zweite Krankheit

Die Stigmatisierung psychischer Störungen nimmt trotz zunehmendem Wissen über Ursachen und Krankheitsbilder zu. Unsere Redakteurin sucht Auswirkungen und Lösungsvorschläge.

Von Jule Schweitzer

Stell dir folgende Situation vor: 

Es ist 22 Uhr und dunkel. Du fährst mit dem recht vollen Bus aus der Stadt nach Hause und hast dich alleine auf einen Zweier am Fenster gesetzt. Nächste Haltestelle, die Türen gehen auf, ein Mann steigt ein. Die Jacke ist zerrissen, die Hose sitzt zu locker, er beschimpft die Tür, gegen die er stolpert. Nachdem du direkt hinter dem Einstieg sitzt, setzt er sich neben dich. Er spricht vor sich hin und wird dabei immer lauter. Du kannst sehen, dass er weder Kopfhörer trägt noch in ein Handy spricht. 

Wie fühlst du dich? Bist du verunsichert? Hast du Angst? Rutschst du vorsichtig von ihm weg? Erklärst du den Mann in deinen Gedanken für verrückt? Weist du ihm sogar eine Diagnose zu? Schizophrenie zum Beispiel?

Ich wage es zu schätzen, dass die meisten Personen in dieser Situation mit Abneigung oder Unwohlsein reagieren würden, vielleicht sogar mit Angst. Ich schätze auch, dass besonders weiblich gelesene Personen sich vor von dem Mann ausgehender Aggressivität fürchten würden. Ich gebe zu: Ich würde das auch. Und das, obwohl ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit psychischen Störungen aggressiv werden, nicht unbedingt höher ist als bei Menschen ohne. 

Stigmatisierung von psychischen Störungen ist immer noch ein riesiges Problem im Alltag. Und es geht so schnell: Wenn du dir jemanden mit Depressionen vorstellen willst, stellst du dir einen Menschen vor, der den ganzen Tag im Bett liegt und weint. Schizophrenie bedeutet in den meisten Köpfen wahrscheinlich noch immer unbedingt Halluzinationen und Mit-sich-selbst-reden. Schlimmstenfalls verstehen einige sogar darunter immer noch gespaltene Persönlichkeiten. 

Ein Stigma hat vier Merkmale: 

  • Die Zuweisung eines Etiketts für eine Gruppe, das diese von anderen unterscheidet
  • Die Verknüpfung dieses Etiketts mit gesellschaftlich abgewerteten Eigenschaften
  • betroffene Menschen werden als grundsätzlich verschieden von nicht betroffenenen eingeschätzt und es wird sich von ihnen abgegrenzt
  • Menschen mit dem zugewiesenen Etikett werden diskriminiert

Ein Stigma führt also dazu, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgegrenzt werden und daher oft Angst davor haben, eine Diagnose zu erhalten und wegen mentaler Problemstellungen nicht in die Ärzt:innenpraxis gehen. Stigmatisierung wird deshalb häufig als »zweite Krankheit« bezeichnet, die die Betroffenen mit der eigentlichen Diagnose gleich mittragen. 

Ein Blick auf die Historie der Psychologie und Psychiatrie in ihrer Forschung und ihren Behandlungsmethoden ließe erwarten, dass die Stigmatisierung in den letzten Jahren zurückgeht. Immerhin wird mehr über mental health gesprochen, das Wissen um die neurologischen Ursachen einiger Störungen wird größer und ist weiter verbreitet. Doch dem scheint nicht so zu sein. Die Gründe für die Stigmata könnte evolutionär bedingt in der grundsätzlichen Angst vor Krankheit, vor Ansteckung liegen, auch wenn psychische Störungen nicht ansteckend sind, vermutet Nicolas Rüsch, der Autor von »Das Stigma psychischer Erkrankungen«. 

Es gibt vermutlich noch weitere Hintergründe der Stigmatisierung. Doch selbst das Wissen um den Ursprung der Stigmatisierung würde unsere Gesellschaft vermutlich nicht davor bewahren, zu stigmatisieren. Es reicht, zu wissen, dass Stigmata unfair sind und den Betroffenen Leid verschaffen. Deshalb ist für mich als Psychologiestudentin und alle, die den Umgang mit psychischen Störungen verbessern wollen, vor allem relevant, was man denn nun gegen diese ganzen Stigmata machen kann – auch (und besonders) gegen die, die wir in unseren Köpfen tragen, selbst, wenn wir es eigentlich besser wüssten:

  1. Trotz allem: Aufklärung und Bildung. Wissen über einzelne Krankheiten, aber auch darüber, dass psychische Erkrankung versus psychische Gesundheit keine Sache von schwarz und weiß ist, herstellen. Die Übergänge können fließend sein.
  2. Den Kontakt zu Betroffenen nicht um jeden Preis meiden, sondern suchen. Sich über die Lebensrealitäten auszutauschen, statt im Internet Symptome zu googlen, hilft einem realistischeren Krankheitsbild und kann Berührungsängste verringern.
  3. Eigene Reaktionen hinterfragen. In einer Situation, wie eingangs beschrieben, wird man sich nicht von heute auf morgen nicht mehr unwohl fühlen. Aber es lohnt sich bereits, zu hinterfragen, ob das Unwohlsein auf eigenen Erfahrungen/tatsächlichen Handlung einer Person beruht, oder auf Stigmata, die es zu beseitigen gilt
  4. Gesellschaftsstrukturen verändern. Oben genannte Ausgrenzung von Betroffenen geschieht nicht nur im Privaten, sondern auch (oder sogar vor allem) in der Gesellschaft. Menschen müssen fürchten, ihre Arbeit oder Wohnung zu verlieren, weil sie eine bestimmte Diagnose haben oder eine gewisse Zeit in einer stationären Einrichtung verbringen. Spezielle Arbeits-, Wohn- oder Freizeitangebote könnten eine von vielen Lösungen sein. Wiedereingliederung, Prävention, mehr Offenheit und Flexibilität sind weitere. 
  5. Filme oder Bücher, die psychische Erkrankungen realistisch abbilden, sollten mehr in den Mainstream gelangen. Ein positives Beispiel dafür wäre »Turtles All The Way Down« von John Green, ein negatives wäre der Film »Split«.

Artikel und Quellen für Interessierte: 

Stigmatisierung: Was psychisch Erkrankte erleben – Psychologie Heute (psychologie-heute.de)
Klinische Psychologie – Mit Online-Material – Ann M. Kring, Sheri L. Johnson, Martin Hautzinger | BELTZ Kapitel 1

Beitragsbild: Isi Parente I unsplash.com

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