»Poor Things« – Bastarde aller Art

»Poor Things« – Bastarde aller Art

Lanthimos‘ Hang zum Exzentrischen artikuliert sich nicht mehr länger nur in der Art der zurückhaltenden, spärlichen Strenge der Mise-en-scène, sondern ist endgültig Teil des Set-Designs, eines ambitioniert literarischen world buildings geworden: Utopie und Dystopie, Historismus und Science-Fiction, Parodie und Pastiche zugleich.

von Johannes F. Schiller

Von der klaustrophobischen Beklemmung von früheren Arbeiten wie »The Killing of a Sacred Deer« (2017) bleibt wenig übrig, nur im letzten Akt scheint sie als latente Bedrohung durch. Seinem Publikum hat sich Giorgos Lanthimos noch nie angebiedert, es immer auf quälende Distanz gehalten. Provokationen mit doppeltem Boden: Da gab es absurde Grotesken über Indoktrination und die Familie als Keimzelle des Extremismus (»Dogtooth« 2009), die letzte Form der Romantik dargestellt als postapokalyptischen Überlebenskampf (»The Lobster« 2015). Immer skurril und bitterernst, mit Anleihen bei Brechts Verfremdungstechniken. Diesmal hat er »Poor Things« adaptiert, einen Roman des schottischen Autors Alasdair Gray aus dem Jahr 1992 – selbst eine postmoderne Bearbeitung des »Frankenstein«-Mythos von Mary Shelley. Sein komödiantischer Stil bekommt dadurch völlig neue Impulse.

Es sind die kleinen ornamentalen Kniffe: das den Ausschnitt krümmende wie verzerrende Fischaugenobjektiv, die Lanthimos schon in der historischen Revision »The Favourite« anwandte. Nicht bloß Bruch in der Optik, sondern auch klaustrophobische Apparatur. Lanthimos‘ Hang zum Exzentrischen artikuliert sich nicht mehr länger nur in der Art der zurückhaltenden, spärlichen Strenge der Mise-en-scène, den entrückten Dialogen, nein – hier ist sie endgültig Bestandteil des Set-Designs, eines ambitioniert literarischen world buildings geworden: Utopie und Dystopie, Historismus und Science-Fiction, Parodie, Pulp-Fantasy und Pastiche zugleich. 

Immer am männlichen Blick dran sein

Der erste Teil ist noch in klassisches Schwarz-Weiß des viktorianischen Englands getaucht: Bella (Emma Stone) ist die Kreation des verschrobenen experimentellen Chirurgen Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe), in dessen Palast sie haust. Er überlässt sie wohlwollend sich selbst, betrachtet sie als Tochter. Ein benevolenter, duldsamer »mad scientist«, angetrieben allein vom Wissensdurst, der auch an ihm selbst Spuren hinterlassen hat: Sein mit Wulsten überzogenes, entsetzlich vernarbtes Gesicht ist Zeuge diverser schmerzhafter Eingriffe durch den Vater. Alles steht in den Diensten des wissenschaftlichen Fortschritts. Ein weiteres paternales Trauma möchte er seinen Schöpfungen allerdings nicht zumuten. Fabelhafte Hybridwesen mit Schweinskopf und Hühnerrumpf bevölkern dieses von der Außenwelt abgeschottete Labor-Paradies. Bastarde aller Art in einem herbeifantasierten Garten Eden im Herzen Londons und phantastischen Traum im Art-nouveau-Dekor. Doch Bella wurde das Gehirn ihres ungeborenen Kindes eingepflanzt. Ihr Handeln ist entsprechend unkoordiniert. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich die Außenwelt zu entdecken.

Sie ist zweifellos geschaffen von ihren männlichen Kollegen, die auf verschiedene Weise Besitzanspruch auf sie erheben. Ihre Vaterfigur, den sie unironisch »God« nennt, hegt liebevoll väterliche Gefühle für sie. Der Verführer und Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) gibt den großspurigen modernen Libertären, der Bella die Wege der Liebe zeigt, aber nur auf seine eigenen libidinösen Bedürfnisse aus ist. Er entführt sie nach Lissabon und nutzt geschickt ihre Naivität für sich aus, verliebt sich dann aber hoffnungslos, als sie ihn nicht mehr braucht. Er zerbricht am eigenen Narzissmus, während Bellas geistig-intellektuelle Entwicklung rasant voranschreitet und sie bald ihresgleichen überholt – was von vielen Kritikerstimmen übereinstimmend als Emanzipationsgeschichte gelobhudelt wurde. 

Eine Hochzeit von Sex und Sozialismus

Bella ermächtigt sich, indem sie den gesellschaftlichen Konventionen die Stirn bietet, sich ihnen aktiv verweigert mit einer Logik des »Ent-Lernens« dieser Standards und Gepflogenheiten. Unangepasstheit als Tugend. Kurioserweise bildet die Entdeckung ihrer eigenen Sexualität den Startschuss dieses Selbstfindungstrips, woraufhin Lanthimos Sexszenen als wiederkehrenden, kruden running gag etabliert – bis zum sozialistischen Klassenkampf durch Prostitution im Pariser Bordell. Man fertige nun sein eigenes Kapital an, ganz ernst zu nehmen ist das nicht. Kapitalistische Ideologiekritik wird auch nur als überzeichneter Gag ausgespielt, so scheint es. Es ist nie eindeutig, ob es sich hier um kluge Subversion der Entfesselung des Begehrens oder primitives Amüsement am Exzess handelt – im Zweifel beides gleichzeitig. 

Es ist gerade Bellas ungezügelte, unapologetische Genusssucht, die die sittenstrenge und prüde Moral untergräbt, welche sich Scham als erzieherische Machttechnik vorbehält und der Frau sonst eine klare soziale Hierarchie zuweist. Sex trägt aus dieser Perspektive keinerlei vorgefestigte soziokulturelle Bedeutung. Für Bellas infantiles Verständnis von Welt ist das, ganz objektiv, ein vergnügliches »Aufeinander Springen« und »Hüpfen«. Sie wurde nicht vom männlichen Sprachregime linguistisch prä-konditioniert, sondern macht sich einen Mix aus Wissenschafts-, Bildungs- und Kindersprache zu eigen. Ein wahrer Bastard. Sie hat keinerlei Konzept von Bindung, Monogamie oder Treue, denn sie hat all diese gesellschaftlichen Zwänge produktiv »verlernt« (oder eben nie kennenlernen müssen). Auf gewisse Weise hat sie die Welt durchschaut wie niemand sonst. 

Poor Things läuft seit dem 18. Januar 2024 in den deutschen Kinos. Im Verleih von Walt Disney. 141 Minuten.

Beitragsbild: VinnyCiro I pixabay

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