Lady of the Flies

Lady of the Flies

Krieg, chemische Wunderwaffen und Gewalt; ähnlich wie bei William Golding geht es auch in diesem Artikel um einen erbitterten Kampf und Seiten, die man zuvor noch nicht an sich kannte. Die Differenz zum Buch? Es geht diesmal tatsächlich um Fliegen… und andere Widerlinge dieser Art.

von Anonym

Pssssss psssss… Ich drehe mich mit viel Schwung zur Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf. Meine Augenlider werden schwer, fallen zu und ich schlafe weiter. Pssssss psssss… Ich hebe meinen Arm, hole aus und schlage damit auf mein Ohr. Endlich Ruhe. Nur ein leichtes Pfeifen ist zu hören. Tinnitus, ist aushaltbar. Aber…, was? Einen Mo- Pssssss psssss… Ein lautes entnervtes Stöhnen entfährt mir. Ich spüre eine sachte Berührung auf meiner Wange. Etwas bewegt sich. Es tippelt immer weiter zu meinem Ohr hinüber. Ein leises Psssss pssss… ertönt. Eigentlich kann es seinen Reiz haben, Dinge ins Ohr geflüstert zu bekommen – das kommt natürlich auch immer auf die Person und den situativen Kontext an –, doch gerade jetzt hatte die Geräuschkulisse in der Nähe meiner Hörorgane absolut keine erotisierenden Energien. Es raubt mir eher den letzten Nerv und veranlasst mich zu einem – äußerst klaren – Gedanken: das bedeutet Krieg. Leute, packt die Chemiewaffen aus, es geht wieder los! Ich denke an 1980, Golfkrieg und chemische Waffen. Irgendetwas fühlt sich falsch an.

Die Wohnung gleicht mal wieder einem Zoo voller Miniaturattraktionen. Neben den alljährlichen Mitbewohnern, den Fruchtfliegen, kommen zum Winter auch immer wieder meine saisonalen Lieblings-Zuginsekten hinzu: Trauermücken. Klar, damit muss man kalkulieren, wenn man mehr Pflanzen als Quadratmeter in der Wohnung und einen Hang zur übermäßigen Bewässerung hat. Irgendwann, meist beim Kauf eines neuen grünen Coping-Mechanismus, ziehen diese kleinen Biester unbemerkt mit ein. Und dann hat man sie da, wird sie meist auch nur schwer los. Also was tun?

Schritt eins: Entnervt aufstehen und zum Vorratsschrank gehen.

Schritt zwei: Merken, dass man weder Chemiekeulen, noch sachte Hausmittelchen vorrätig hat.

Schritt drei: Shopping.

Wurden diese drei Meilensteine erfolgreich absolviert, kann die aktive Bekämpfung auch schon losgehen. Die siegessichere Jägerin legt sich auf die Pirsch und lauscht den Klängen der Natur. Nanu, ein vorsichtiges Knacken der Monstera deliciosa von links. Sie schreckt auf, wird aufmerksam. Dann folgt wieder Stille. Es ist beinahe zu still. Wo haben sie sich nur versteckt? Wittern sie die Gefahr und warten nur, bis sie im Schutz der Nacht einen nächsten Angriff wagen können? Nein, so ausgefeilt sind diese Widerlinge nicht. Der Hunger lässt sie impulsiv und unbedacht agieren. Sie greifen bestimmt noch vor Einbruch der Dunkelheit an. Die Jägerin muss nur geduldig bleiben. Komischerweise fühlt sich das gerade nach weitaus mehr als einer simplen Mücken-Beseitigung an. Ich kann diese Gefühle lediglich noch nicht definieren.

Und nur ein par Minuten später sollte es so weit sein. Psssss pssssss… die Geräusche kommen aus dem Topf der Efeutute. Stopp, auch aus Richtung der Yucca-Palme sind sie zu hören. Zugriff! Wir rücken vor. Noch bevor die Trauermücken realisieren können, wie ihnen geschieht, stecken schon diverse Streichhölzer in der Pflanzenerde, die Oberfläche der Töpfe durch und durch mit Zimt bestreut. Wie wild fliegen sie durch die Luft, nehmen den Raum ein – meinen 20qm-Raum. Ich reiße das Fenster auf, um ihnen die Möglichkeit zu bieten dieser Situation zu entfliehen. Das hier soll kein sinnbefreites Tötungsdelikt werden. Wer weiß, was sie in diesem Moment empfinden, ob sie überhaupt etwas empfinden? Viele von ihnen landen auf dem Boden, sie konnten Sein und Schein – Fensterscheibe und Freiheit – nicht voneinander differenzieren. Sie fallen dem Staubsauger zum Opfer, der die letzten Spuren der Auseinandersetzung verschlingt. Kein Psssss… psssss… ist mehr zu hören. Es ist so, als wäre nie etwas geschehen und nur eine Seite überlebt.

Das Schlachtfeld beseitigt, nur im Geiste bleiben die Spuren. Das ist Krieg – und an dieser Stelle spreche ich nicht von dieser harmlosen Auseinandersetzung in meiner Wohnung. Na, habe ich euch erwischt? Am Anfang klang das doch alles harmlos, nicht? Ein kleines Gedankenexperiment, das sich schnell hochgeschaukelt hat. Nun, für uns sind das lediglich Gedanken, für andere die Realität. Kriege begleiten uns jeden Tag egal, ob in den Medien oder direkt und real im Nachbarland. Wie weit ist es eigentlich mit uns gekommen, wenn ich beim Beseitigen von Trauermücken mit meinen Gedanken so abschweife?

Foto von Clay Blanks

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