Der Tag, an dem ich mein Ich verlor

Der Tag, an dem ich mein Ich verlor

Vorbei ist die Zeit des Weglaufens. Jetzt schreibe ich. Über den Moment, als sich Körper und Geist voneinander entfernten – Über das Licht, nicht von dieser Erde – Über den Tag, an dem ich mein Ich verlor.

TW: In dem Text geht es um einen blutigen Verkehrsunfall und Flashbacks.

von Anonym

Spät nachts stand ich in meiner Wohnung und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Wie automatisiert ließ ich meinen gedankenschweren Kopf in die Hände gleiten und legte ihn dort ab. Ich seufzte. Was gäbe ich nur, damit es just in diesem Moment keine Straßenlaternen, sondern Sterne sein würden, die die Finsternis des städtischen Horizonts wie kleine Farbtupfer erhellten – denn ich schwärmte für das natürliche Licht und verabscheute sein grelles, künstliches Pendant, dessen Kälte sich stets in meinen Körper einzubrennen suchte. Mein Atem stockte.

K Ä L T E.

Genau wie damals, als ihr regloser, eiskalter Körper in Alufolie gewickelt wurde und…

Nein. Film zurückspulen. Alles auf null. Einatmen, bis zehn zählen, Ausatmen – Besser.

Die Möglichkeiten der erträumten Weite und Fantasie waren schon immer meine treuesten Begleiterinnen gewesen: Bereits in meiner Kindheit fürchtete ich nichts so sehr, wie kleine, geschlossene Räume; ja, nichts widerte mich so sehr an, wie Menschen oder eine Krankheit, welche mich einzuengen versuchten; und nichts ließ mich so sehr erstarren, wie das Gefühl von Ungerechtigkeit oder das Gefühl, eingesperrt zu sein und keine Wahlfreiheit mehr über meinen Körper zu haben.

Bei diesem Gedanken wurde ich erneut von dem Film eingeholt – er spulte zurück. Auf Anfang.

Dunstiger Nebel erschien vor meinen Augen und ein bestialischer Gestank – eine Mischung aus Blut und Schweiß – stieg in meiner Nase hoch, während ich vor dem inneren Auge sah, wie weinende Hände an einem reglosen Körper rüttelten.

Ich erstarrte: Es war IHR Körper…

Schnell hielt ich mir die Ohren zu und schloss die Augen. Doch es war zu spät. Denn das

L I C H T war bereits da. Genau wie damals…

als sie nicht mehr eins mit ihrem Körper war. Als ihr Geist davon schwebte, angezogen von einem verlockend hellen Licht, das sie einlud, mit ihm zu gehen und den unerträglichen Schmerz endlich loszulassen…

Sollte sie dem Sog wirklich nachgeben?

Mit hoffnungslosem Blick auf ihren blutenden Körper, der immer mehr zerlief, beschloss sie, direkt auf den wohlig warmen Ort zuzuschweben. Das Licht war so hell, dass sie die Augen schließen musste. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl des Angenommenseins. Ein letztes Mal wollte sie sich nur mehr zu der leiderfüllten Welt, die sie entsetzlich rüttelte und panisch auf ihre Wangen patschte, umdrehen. Ja, sie hatte sich bereits für die schillernde Wärme entschieden, die ihren schmerzenden Körper immer mehr umhüllte, als ihr plötzlich die vertraute Stimme eines geliebten Menschen verzweifelt nachrief und sie festhielt –

STOP. Ich sprang auf und rieb mir die Augen, bis ich das Gefühl hatte, den Schatten in meinen Augenhöhlen sehen zu können. Tränen kullerten über mein von Sorgenfalten gezeichnetes Gesicht. Ich schnappte nach Luft und zitterte; ich musste laufen. Einfach nur laufen. Etwas tun. Aus Angst vor dem Kontrollverlust über mein Selbst floh ich also in die dunkle Nacht.

Nach 10 Minuten konnten meine Beine schon nicht mehr, doch sie rannten einfach weiter, denn ich wollte meinen Körper spüren: meinen Atem, meine schmerzenden Muskeln. Ich wollte etwas Echtes fühlen. Denn der Film in meinem Kopf spulte einfach weiter. Ich ließ ihn über mich ergehen, lief gemeinsam mit meinen Tränen gegen den aufkommenden Schmerz um die Wette, damit er mich nicht einholen würde. Immerzu dachte ich dabei an sie…,

… als sie in den Schockraum einer Notaufnahme abgelegt wurde, wo fünf Augenpaare ihre Verletzungen begutachteten & glaubten, ihren zerfledderten Zustand mit mitleidigen Blicken kommentieren zu müssen… Sie konnte nicht weglaufen, obwohl sie es so gerne getan hätte.

Sie wehrte sich gegen all die bohrenden Augen, gegen die grabschenden Hände im blutenden Intimbereich. Kaltes Licht blendete sie. Danach wurde alles dunkel, sie gab sich auf und vergaß sich selbst. Ja, sie vergaß alles, das ihr Ich vor dem Verkehrsunfall ausgemacht hatte. Vor allem aber vergaß sie das Gefühl von » Leben «.

Mein Blick wurde immer starrer. Tunnelblick. Aus meinem Nebelblickfeld erschienen Menschen, sie sprachen mich an, ob ich in Ordnung sei, doch ich rannte einfach an ihnen vorbei.

Nach dem Eingriff fühlte sie nur noch Leere & war im dauerhaften Alarmzustand. Blickte sie in den Spiegel, stand ihr eine unbekannte Person gegenüber. Sie schlief kaum, aß kaum. Alles Alltägliche erschien ihr unwichtig. Sie lebte in einer Blase, in der nur eine Frage zählte: Warum war sie nicht bereits erlöst worden, als sie noch allein im Straßengraben lag? Ihr wäre so Vieles erspart geblieben.

Plötzlich blickte ich müde auf: Ich fand mich in einer kleinen Kneipe wieder. In meiner Hand hielt ich ein Mikro, um mich spielte Musik. Warmes Scheinwerferlicht strahlte mir direkt ins Gesicht und kitzelte mir ein zartes Lächeln auf die Lippen. Ich begann zu singen, genau wie sie …

… als sie sang, den gesamten Heimweg lang, nachdem sie warme Sonnenstrahlen und geliebte Arme vor den Krankenhausmauern empfangen hatten. Ein neues Leben hatte begonnen. Eine zweite Chance. Ein Geschenk?

Bisher, wenn ich an » sie « dachte, hatte ich oft das Gefühl, vor Scham und Überforderung laufen zu müssen. » Ihr « entlaufen zu müssen. Gespräche über sie meiden zu müssen. Besonders, wenn ich Situationen erlebte, die mich an das einsame, hilflose Ausgesetzt-Sein erinnerten und einen Fluchtreflex in mir auslösten.

Heute ist das anders, auch wenn ich zugebe, dass ich noch immer oft an » sie «  zurückdenke. Kein Wunder, schließlich war ich einmal » sie «. Ich habe ihre Leiden erlebt, an einem Körper, der auch einmal der meinige war, und trotzdem bin ich heute eine andere Person, in einem anderen Ich. Nicht mehr mein altes Ich, das merkte, wie wohltuend das Licht – nicht von dieser Erde – wirklich sein kann und folglich von mir ging; sondern ein Ich, das sich bewusst für die schmerzerfüllte, aber dennoch wunderschöne diesseitige Welt entschieden hat. Mein Ich, das auf dieser kaltherzigen Welt ein Licht für andere Menschen sein möchte. Und so laufe ich heute nicht mehr davon, sondern bleibe stehen. Das Schönste daran: Schaue ich in den Spiegel, so finde ich darin endlich wieder: Mich.

Bild von Tama66

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