Nicht gestern und nicht morgen
»Wie klein und schwach unter den Sternen. Ganz anders wunderschön.«
von Anna Müller
Drei Monate sind nun vergangen – und heute ist es so weit.
Am Horizont ungeordnet: schwarze Zacken. Viel weniger Ordnung noch am dunkelblauen Himmelszelt: Ein Streuselkuchen aus hellen Sternen. Den Großen Wagen erkennt sie ganz mühelos. Dort die Linien der Kassiopeia. Und hier der kleine Wagen. Oder war das der kleine Bär? In jedem Fall wunderschön.
Vielleicht soll sie sich mehr mit Sternen beschäftigen, mit dem Weltall allgemein. Ja, in Zukunft würde sie keine Minute mehr gegen den Spiegel oder andere Oberflächen verlieren. So viel Zeit, um Sterne oder Planeten oder gleich das ganze Universum kennenzulernen. In jedem Fall interessant.
Im Schein ihrer Stirnlampe entweichen zarte Wölkchen aus ihrem Mund – der Beweis, dass sie noch lebt. In einer Stunde wird der Tag enden. Davor noch ihr Leben. Falls die Weißen ins Schwarze getroffen haben.
Bald wird sie den Gipfel erreichen. Da ist sie sich sicher. Stein um Stein, Schritt um Schritt, Zug um Zug. Dazwischen ein Blick nach oben zu den Sternen, ein anderer nach vorne zum Kreuz, wieder ein anderer nach unten. Auch da brennen Lichtlein, Lichtlein vom Menschen. Lampen, Laternen, das übliche halt. Wie klein und schwach unter den Sternen. Ganz anders wunderschön.
Der Tod ist das Ende vom Leben. Wo kein Tod, da kein Leben.
Sie misst: Ein Meter Achtundsechzig. Klein inmitten der Berge, klein inmitten der Erde, klein inmitten der Sterne.
Sie selbst der Moment.
Wer hat Kontrolle? Worüber Kontrolle? Wozu denn Kontrolle? Da war nie Kontrolle.
Klein. Allein. Sein. Im unendlichen Raum. Hier kann sie gehen.
Bild von Arek Socha