Das beständige Gleiten der Begierde*

Das beständige Gleiten der Begierde*

Die Einsamkeit in der Gruppe, kein logischer Widerspruch, sondern neumodisch societal malaise. Hier kennt man sich (nicht). Fast verspürt er eine Sehnsucht nach dem schwebenden Gesicht, das da vor dem Lenkrad auf der anderen Straßenseite sitzt. Es zu fassen, nur diese Nacht – Fremde verstehen sich auf eine Art und Weise miteinander, die sich mit nichts vergleichen lässt.

Von Johannes Schiller

Eine kürzere Fassung der Kurzgeschichte erschien unter dem Titel „Fragmente einer Autobahnfahrt“ in der 35. Print-Ausgabe der Lautschrift.

         „die anderen Scheinwerfer … jene trüben Augen, die aus dem Nichts auftauchten und unter lauter Gedröhn wieder dorthin zurückkehrten, waren, wie er selbst, nichts anderes als Meteore, die keuchend ins Unendliche stürzten.“

Simenon, Die Zeit mit Anaïs

I. Die hässlichen Seelen verströmen den Geruch von Fäulnis

Den Auffahrunfall wird es geben – Gaffer, die anhalten und mit geweiteten Visagen dem Spektakel beiwohnen wollen, immer bloß passive Schauer, immer bloß aus sicherer Distanz. Sie selbst meinen, sie seien unsichtbar. Sie selbst gehören ja auf eine Weise nicht dazu. Dahinter eine weitere Kolonne an Voyeuren, die die nächste Kollision auslösen wird. Die wenigsten verstehen den Moment, die meisten durchleben ihn. Diesmal werden die Opfer gezählt; verformtes Autoblech, blau glimmender Rauch und eine Hand voll Rettungssanitäter. Man braucht sich nur den Schrecken ausmalen, der sich tagtäglich hier abspielt – sonderbar neutralisiert vom Wind, der die Speisekarte des kurdischen Restaurants um die Ecke mit sich trägt und unweigerlich den Appetit anregt. Doch wagt niemand daran zu denken angesichts der innig geliebten Autoteile und zerbeulten Angehörigen.

Ihr moralischer Kompass versagt zuweilen. Beschämt schauen sie einander in die ausgelöschten Augen. Jeder glaubt zu wissen, was gemeint ist. »Um Himmels willen, worauf kann ich noch vertrauen?« Um der Absurdität ihrer Situation Nachdruck zu verleihen, der unendlichen Trauer zu entfliehen, wäre es für den Wilden ein Ventil, in irres Lachen auszubrechen. Doch hier wähnt man sich unter Kontrolle. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig als zu schweigen. Zum guten Ton gehört die Selbstzensur: den niederen Trieben entsagen! Fünfzig Jahre Zivilisationstraining, wofür? Internalisierte Affektbeherrschung, mit einem geringen Anfall der Schwäche, einer kleinen Unachtsamkeit wär sie dahin – und ihre hässlichen Seelen kämen in all ihrer fauligen Verdorbenheit zum Vorschein.

II. Begierde ist Unterwerfung!

Die Straßen ersaufen in der Nässe, keine guten Ausgangsbedingungen. Wieso hier noch anhalten, wenn er schleunigst nach Hause kann? Stau. Ja, die Romantisierung des Verkehrsstaus. Geteiltes Leid, geteiltes Glück. Niemand ist allein und doch jeder für sich. Es ist unfair, sie als Fahrer zu bezeichnen, denn sie stecken alle fest. Sie haben sich abgefunden. Jeder geht unterschiedliche Wege, hat einen Bestimmungsort, doch alle sitzen sie fest in einer Richtung. Vom Komfort eines funktionierenden Heizbelüftungssystems kann nicht jeder Gebrauch machen. Die Luft riecht in diesen Eisengräbern angenehm homogen, artifiziell. Vielleicht sind sie ja auf dem gleichen Sender unterwegs. Blicke streifen sich, ganz unscheinbar, mit heimlicher Erregtheit. Oh, du liebliches Gleiten der Begierde, wann suchst du mich wieder heim?

Die Straße erstreckt sich wie ein Mondkrater in die Nacht, kalt und fremd, die Oberfläche des Mars. Tränen in traurigen Gesichtern. Manch einer erhofft sich etwas von der kollektiven Anonymität, etwas, das er nur hier bekommen kann, in der Zusammenkunft einer so genannten modernen Gesellschaft, in der ideell jeder gleich gestellt ist. Gleich mobil, gleich privilegiert. Flüchtig sind die Bekanntschaften, bis der Verkehr langsam wieder von seinem zähen Schlaf erwacht, Fenster in Schritttempo aneinander vorbeigleiten. Profile von Männern und Frauen an den Rahmen gestützt; seufzend, abwartend, abgewandt, lethargisch. Wir verweilen bei jedem von ihnen, gerade lange genug, damit wir uns für jeden eine eigene Geschichte erfinden können. Bis es ans nächste Fenster kommt. Der Trucker muss lang unterwegs gewesen sein, sein Hund schläft tief, der Blick ausgebrannt und starr. Blaue und weiße Lichtkegel ziehen vorbei, das Anzünden einer Zigarette, der Anhalter, sein rauer Atem, das freundliche Gesicht, rosa Scheinwerfer und jeder Regentropfen ein neues Gewebe, das zergeht, aufersteht, zergeht, verwischt und aufs Neue zergeht…

III. Fremdheit

Die Einsamkeit in der Gruppe, kein logischer Widerspruch, sondern neumodisch societal malaise. Hier kennt man sich (nicht). Fast verspürt er eine Sehnsucht nach dem schwebenden Gesicht, das da vor dem Lenkrad auf der anderen Straßenseite sitzt. Es zu fassen, nur diese Nacht – Fremde verstehen sich auf eine Art und Weise miteinander, die sich mit nichts vergleichen lässt.

Magisch ist der Ort, einer dieser Portale zwischen Lüttich und Luzern, wo sich plötzlich alles aufzulösen beginnt. Unbekanntes lockt, die Straße hat mich einverleibt. Ist er den physischen Tod gestorben? Neugeboren? Und ich höre Foucault in meinem Ohr widerhallen, nichts ist stabil, keine Identität, kein Selbst. Il n’y a pas de… Bin ich in der Zone angekommen? Dort, wo jedes Naturgesetz außer Kraft gesetzt ist, ein Körper ohne Organe im kontinuierlichen Wandel begriffen, verschobene Grenzen, überblendetes und fremdes Ich. Dionysische Verausgabung, Verschwendung, formlose Ekstase und Hingabe im Opferritual. Splitter im System.

Er nimmt die Abfahrt. Alsbald dehnt sich der Fahrstreifen wieder in die Länge, ein einziger weißer Fluss vor seinen Augen erhellt das Dunkel. Und es kommt ihm vor wie ein Traum, ohne Anfang und Ende; verwirrt, benommen, als wär er in ein Abenteuer verstrickt gewesen, das ihn verändert hat. Sein Herz pocht unablässig. Sprechen versagt. Begriffe erfinden.

Wenn nur das Dilemma des Vergessens nicht wäre, das umgehend einsetzt, sobald ich zu Hause angekommen bin. Ein höchst beklagenswerter Anflug von Kurzzeit-Amnesie. Was an bruchstückhafter Erinnerung an den graublauen Asphalt übrig bleibt, will ich nicht missen. Jetzt klammere ich mich verzweifelt daran, meine ganz eigene Galerie der „Toten“, die Atrocity Exhibition für das 21. Jahrhundert. Verwaschene Abzüge von Mid-Century-Mobiliar am Beifahrersitz, ein paar Kritzeleien, das eigene Spiegelbild zur Existenzvergewisserung, der Duft von Bulgur, Nachtjasmin und Nachtlektüre.

(*Der Titel ist von Alain-Robbe Grillets gleichnamigen Film inspiriert.)

Bild von Koushik Pal

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