Tangerine Dream – Beständigkeit seit 1967

Tangerine Dream – Beständigkeit seit 1967

Seit mittlerweile über 50 Jahren sind Tangerine Dream nun schon im Musikgeschäft. Ihr Geheimrezept: Instrumentalmusik, eine stabile Fangemeinde und eine ebenso stabile Besetzung. Besonders die letzten drei Alben zeigen die Beständigkeit des Trios um Thorsten Quaeschning deutlich.

von Yvonne Mikschl

Wenn man sich die Geschichte der elektronischen Musik in Deutschland ansieht, fallen immer wieder zwei Namen ins Auge: Kraftwerk, die in Düsseldorf die deutsche Popmusik am meisten geprägt haben, und Tangerine Dream, die in Berlin den Ambient und die Cosmic Music nach vorne gebracht haben. Beide werden fälschlicherweise gerne dem Krautrock zugeordnet, eine von den Briten ab Ende der 1960er Jahre eingeführte abwertende Bezeichnung für den Hang zur experimentellen, improvisationsgeprägten Rockmusik. Auch Thorsten Quaeschning, aktueller Leiter von Tangerine Dream, distanziert sich im Interview deutlich davon. Genretechnisch lässt sich die Bandnach Quaeschning als »elektronisch erzeugte Musik« mit Tendenz zu Ambient einordnen. Warum diese Zuschreibung für die 1967 gegründete Formation, um die es gehen soll, besonders heute noch besser passt als der Krautrock-Begriff, wird nun Teil der heutigen Lautstark-Kolumne sein. Wobei die Musik grundsätzlich nicht besonders laut ist.

Eine kurze Bandgeschichte

Ende 1969 bestand die Band als Trio mit Edgar Froese, dem einzigen dauerhaften Mitglied der Gruppe, sowie Conrad Schnitzler und dem Studenten Klaus Schulze, der als Solokünstler bekannt wurde. Die Frühzeit, von 1971 bis 1975, gilt in der Literatur als die Zeit, an dem die Band am stabilsten war. Unter dem Label Virgin veröffentlichten sie 1974 ihr erstes Album Phaedra, welches das erste kommerzielle Album mit elektronischen Sequenzen war und sich als »one of Virgin’s first hits« herausstellte. Während der Folgezeit brachten Tangerine Dream bis heute über 100 Alben (inklusive EPs) heraus, die mit unterschiedlichsten Stilen und auch akustischen Instrumenten arbeiteten.

2005 kam mit Thorsten Quaeschning ein neues Gesicht zu Tangerine Dream, als die Band damals einen neuen Techniker und Keyboarder suchten. Schon vorher widmeten sie sich mehr und mehr dem Komponieren von Soundtracks: 2013 steuerte die Berliner Formation den Soundtrack zum Videospiel Grand Theft Auto V bei, welches als eines der erfolgreichsten Videospiele der Geschichte zählt. 2015 verstarb Gründungsmitglied Edgar Froese. Seitdem besteht die Band aus drei Mitgliedern: Quaeschning, der die Leitung der Band innehat, der Japanerin Hoshiko Yamane, die mit Cello und Violine einen leicht orchestralen Touch in die Musik miteinbringt, und Paul Frick.

Woher der Erfolg kommt – in fünf Gründen

»Wir haben keinen großen Hit, nie gehabt. […] Ein übermächtiges Stück Musik blockiert sicherlich Weiterentwicklung.«

Thorsten Quaeschning im Lautschrift-Interview

Bis heute ist Tangerine Dream international erfolgreich. Warum lässt sich in meinen Augen aus fünf Gründen erklären. Die Musik ist rein instrumental ohne Gesang und es gibt weiterhin keine Kooperationen mit anderen Musiker:innen. Eine stabile Fangemeinde auf der Welt trägt ebenfalls dazu bei, dass die Formation erfolgreich ist. Kommerzialisierung steht dabei nicht im Vordergrund, denn man nimmt sich Zeit für die Musik. Vielleicht trägt es auch entscheidend dazu bei, dass »Tangerine Dream« zu den Vordenkern der elektronischen Musik, nämlich der sogenannten Berliner Schule, gehören und damit schon immer internationales Ansehen hatten. Und last, but not least: Thorsten Quaeschning führt das Werk und den Stil von Edgar Froese fort – mit Erfolg, da er die letzten Wirkungsjahre des Gründers selbst in der Band war und nach eigenen Aussagen alles Wissen über elektronische Musik von Froese selbst erlernt hat.

Grundzüge der Musik

Im Vorhinein lassen sich Grundtendenzen feststellen, die die Musik von »Tangerine Dream« prägen. Kaum ein Stück der Band ist unter fünf Minuten lang – man muss sich nicht nur darauf einlassen können, sondern auch noch Zeit mitbringen. Lange Stücke mit einzigartigen Strukturen, die eine neue »Dimension des Sounds« eröffnen, wie es auf der offiziellen Seite der Band selbst heißt. Hauptbestandteile sind Synthesizer, selten mal ein Klavier oder andere akustische Instrumente. Auf der Bühne sieht man das auffallend gut: Besonders Thorsten Quaeschning ist mit den Knöpfen seines Modularsystems hauptsächlich beschäftigt. Was aus diesen aber kommt, ist eine Art kosmische Musik, die in andere Welten tauchen lässt, wie die letzten Alben besonders zeigen.

»Quantum Gate« (2017)

»Quantum Gate« erreichte medial viel Aufmerksamkeit. Es war das erste Studioalbum, das nach dem Tod von Froese im Jahr 2015 erschien. Somit waren auch die Erwartungen hoch, ob Thorsten Quaeschning als neuer Leiter der Formationen das Lebenswerk weiterführen konnte. Und – um es kurz zu halten – ja, es hat funktioniert. Laut offizieller Tangerine Dream-Webseite gilt besonders »Quantum Gate« als Froeses Testament. Wobei das Album als ein Neubeginn zu bezeichnen, erscheint etwas übertrieben: Die Basis für das Album legte Froese noch selbst. Die damals beginnende Phase der Band unter dem Namen Quantum Years basierte auf der Idee der Quantentheorie und der damit verbundenen philosophischen Überlegungen, die musikalisch umgesetzt werden sollen. Ein Glück sorgte Froeses Frau dafür, dass die Band diese Ideen nicht vergaß.

Musikalisch sind die Grundtendenzen zu hören. »It’s Time to leave when everybody’s dancing« weist als einer der wenigen Stücke einen beständigen Beat passend zum Titel auf. Mit »Sensing Elements«ist der Gruppe kein harter Einstieg in das Album gelungen, denn das Stück zeichnet sich durch einen kaum hörbaren Basseinstieg und einen kontinuierlichen Aufbau aus. Doch »Quantum Gate« besteht nicht nur aus Synthesizern und elektrischen Bässen: In »Non-Locality Destination« wird der Hauptteil von einer E-Gitarre übernommen, und in »Genesis of Precious Thoughts«, dem Endstück des Albums, gibt Hoshiko Yamane mit Streichinstrumenten ihr Bestes, um den Track zu veredeln.

Musikbeispiel: »Genesis of Precious Thoughts«

»Recurring Dreams« (2019)

Was klingt wie eine traumhafte Scheibe mit neuen Stücken, ist in Wirklichkeit eine Kompilation mit neuen Versionen von alten Tangerine Dream-Stücken. Gewidmet ist »Recurring Dreams« dem Gründer der Band. Statt Paul Frick spielt hier noch Ulrich Schnauss an der Seite von Thorsten Quaeschning die Synthesizer. Hierauf ist auch das oben bereits erwähnte Stück »Phaedra« von 1974 zu finden und teilt sich die Scheibe unter anderem mit »Los Santos City Map« aus Grand Theft Auto V von 2013. Im Großen und Ganzen alte Kompositionen mit neuem Gewand in der damaligen Besetzung. Besonders hier zeigt sich das Kontinuum der Berliner Formation und ihrer Beständigkeit, wie ich finde, am deutlichsten.

Musikbeispiel: »Moonlight (Yellow Part) 2019«

»Probe 6-8« (2021) und »Raum« (2022)

Vor dem aktuelle Album »Raum« von 2022 lohnt sich ein Blick auf die EP-Auskopplung, die ein Jahr zuvor als Ankündigung veröffentlicht wurde. »Probe 6-8« klingt vom Titel her schon so, als ob Thorsten Quaeschning einfach im Studio wahllos irgendwelche Stücke aufgenommen hätte, die die Band grade improvisiert hat. Und erstaunlich gut passt dieser Gedanke auf die EP und das daraus entstandene Studioalbum: Laut Tangerine Dream-Webseite sind beide Veröffentlichungen so während des Lockdowns komponiert, das eine Aufführung der Stücke live kaum möglich ist – sozusagen Late Night Echtzeit-Kompositionen kombiniert mit klassischer Studioproduktionen als Antwort auf die Verlegungen und Absagen während Corona.

»Raum« bildet dabei das zweites Studioalbum nach dem Tod von Froese und schreibt sich einen Wechsel zwischen Sequenzer-Soundscapes und warmen Synthesizern auf die Fahne. Fundament des Albums bildet das über 19 Minuten lange Stück »In 256 Zeichen«, das mit langsam aufbauenden Strukturen glänzt. »Continuum« macht mit einer kontinuierlichen Sequenz und eines leicht durchbrochenen Beats seinem Namen Ehre. Übrigens: Basis der Kompositionen ist die Cubase-Bibliothek von Froese mit seinen Aufnahmen aus der Zeit von 1977 bis 2013, die Quaeschning und Co zur Verfügung steht – oder warum der Gründer immer noch als Komponist mitangegeben wird.

Musikbeispiel: »Continuum«

Fazit: Beständigkeit im selbstdefinierten Genre der Kosmischen Musik

»Es ist schon ein Konzept dabei und es ist schön, wenn man die Freiheit hat, Dinge entwickeln zu lassen auf eine längere Zeit.«

Thorsten Quaeschning im Lautschrift-Interview

Musikalisch gesehen bleiben alle vorgestellten Veröffentlichungen dem typischen Tangerine Dream-Stil treu: lange Stücke mit träumerischen Sequenzen, die »kontrollierte Emotionen« wecken. Kompositionen mit Synthesizern und Sequenzern, kaum Beat und selten eine Gitarre oder Violine, die für Abwechslung sorgt. Was langweilig klingt, sind in Wirklichkeit Soundscapes, die seit über 40 Jahren eine beständige Hörer:innenschaft haben. Was aus den Synthesizern kommt, ist kosmische Musik, die einen:m in andere Welten tauchen lässt. Tangerine Dream beweist: Erfolg kommt nicht nur durch guten Gesang oder gar einen poppigen Sound – manchmal muss es eben Beständigkeit sein.

offizielle Webseite von »Tangerine Dream«: https://tangerinedreammusic.com/

Originalzitate aus dem Interview mit Thorsten Quaeschning geführt mit Lautschrift-Redakteurin Yvonne Mikschl über Zoom am 07. September 2022

Beitragsbild: Foto von Steve Harvey auf Unsplash

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