An Europas Grenzen: Benjamin Rost über die Entstehung seines Dokumentarfilmes »Harraga«

An Europas Grenzen: Benjamin Rost über die Entstehung seines Dokumentarfilmes »Harraga«

In seinem Film »Harraga« begleitet Dokumentarfilmmacher Benjamin Rost marokkanische Jugendliche bei ihren täglichen Versuchen nach Europa zu fliehen. Der Film wurde für den deutschen Dokumentarfilmpreis 2024 nominiert und läuft am Sonntag, den 09. Juni im Ostenkino. In einem Interview erzählt Rost von der Entstehung des Films.

Von Paula Dowrtiel und Sophia Mayer

Lautschrift: Der Film Harraga spielt in Melilla, was genau hat dich dazu bewegt an die Grenzen Europas zu reisen und darüber zu berichten?

RostIm Jahr 2017, am Höhepunkt der sogenannten »Flüchtlingskrise« fand ich es total beängstigend, dass Staaten in Europa wieder ihre Grenzen hochziehen. Für mich war das ein wichtiges Thema. Deswegen bin ich dann an die Grenzen Europas gefahren, erst nach Ungarn, dann nach Melilla. Das ist eine umzäunte spanische Stadt auf dem afrikanischen Kontinent, an der Grenze zu Marokko und besitzt absurderweise den größten voll elektrisierten und bewaffneten Grenzzaun Europas.

Wie hast du deine Reise nach Melilla vorbereitet?

Rost: Beim Filmemachen mache ich ganz viel aus dem Bauch heraus und versuche nicht viel nachzudenken, sondern einfach zu schauen, wohin es mich zieht. Gemeinsam mit meinem Kameramann, Jonas Schneider, bin ich mit einer kleinen Kamera und ohne Plan hingeflogen. Vor Ort sind wir viel rumgefahren und haben mit Grenzpolizisten gesprochen. Irgendwann standen wir an einem Hafen und haben auf Empfehlung eines Spaniers einen Sonnenuntergang gefilmt, als plötzlich unter den Felsen zwischen fünf und zwölf Kinder hervor krabbelten. Das hat uns neugierig gemacht.

Wie hast du es geschafft diese Kinder kennenzulernen?

Rost: Am nächsten Tag kletterten wir mit etwas Frühstück über die Zäune und entdeckten 100 bis 150 marokkanische Kinder. Diese leben in Höhlen und versuchen jede Nacht, nach Spanien zu gelangen. Dort haben wir den Protagonisten unseres Dokumentarfilms getroffen, Imad.

Wie lange habt ihr in Melilla gedreht?

Rost: Wir sind da erst einmal zehn Tage und Nächte geblieben, haben immer wieder gefilmt und den Kindern auch mal selbst die Kamera gegeben. Am Ende wurden es dann aber doch ganze fünf Jahre Drehzeit, in der wir insgesamt fünfmal vor Ort waren, teilweise für drei Monate.

Ist es in der Zeit jemals zu gefährlichen Situationen gekommen?

Rost: Jonas und ich haben irgendwann beschlossen uns einfach an die Jungs zu hängen. Wenn sie uns etwas zeigen wollen, sind wir dabei gewesen. Dazu gehört auch, dass sie über die Zäune klettern. Wir haben sie auch bei dem Sprung über den Grenzzaun und Verstecken unter den Lastwägen gefilmt. An einem Abend hat uns die Polizei gesehen. Jonas hatimmer eine zweite SD-Karte mit Sonnenuntergangsaufnahmen dabei. Die haben wir der Polizei gezeigt. Die eigentliche Karte habe ich beim Laufen vor der Polizei verloren. Einer der Jungs brachte sie uns später zurück. Ich will damit nur sagen: Wir hatten mehr Angst vor der Polizei als vor den Jungs.

Wie hat sich die Beziehung zu den Kindern über diesen langen Zeitraum entwickelt?

Rost: Am Anfang konnten wir weder ein Wort Spanisch noch Arabisch. Da haben wir uns notgedrungen mit Händen und Füßen verständigt. Die Kamera war die eigentliche Sprache. Unser Team hat sich über die Zeit erweitert und wurde halb deutsch, halb marokkanisch. Ich habe auch Spanisch gelernt und irgendwann konnten wir dann auch miteinander sprechen. Das war ein ganz magischer Moment. 

Eurem Protagonisten Imad gelingt die Flucht nach Spanien. Hat das etwas an eurer Beziehung verändert?

Rost: Imad war sehr fokussiert auf sein Ziel, nach Spanien zu kommen. Nachdem er die Flucht geschafft hatte, ist er untergetaucht und wir hatten 1 ½ Jahre keinen Kontakt. Auf Social Media tauchte schließlich ein Foto von ihm vor einem Straßenschild in Granada auf. Wir haben die Adresse gesucht. Gegenüber von dem Schild war ein Waisenhaus und in dessen Hinterhof hat Imad Fußball gespielt. Dieses Wiedersehen hat uns sehr zusammengeschweißt. Ein besonderer Moment war, als Imad sich selbst zum ersten Mal in einem ausverkauften Kino in Zürich auf der Leinwand sehen konnte. Er sieht sich den Film jedes Mal an, wenn er die Möglichkeit dazu hat, weil es auch bisschen sein Film ist. Das finde ich sehr berührend.

Seid ihr bis heute noch mit allen Kindern in Kontakt?

Rost: Ich habe noch zu allen Protagonisten Kontakt, bis auf einen, der nach seiner Flucht untergetaucht ist. Imad lebt mittlerweile legal in Spanien, was ihm ermöglicht mit uns zu reisen und sich auch öffentlich zu zeigen.

Wie war es für dich diese Jungs bei diesem harten Weg zu begleiten?

Rost: Ich sehe es immer so: Wenn wir schon diesen roten Reisepass haben, mit dem wir unbeschwert überallhin reisen können, sollten wir ihn sinnvoll einsetzen. Da unser Team halb marokkanisch war, konnten wir beide Seiten der Grenzzäune porträtieren. Es ging hier nicht nur um den Film, sondern auch um den Aufbau von Beziehungen und Freundschaften. Hinter der Kamera ist viel passiert, von Telefonaten mit Anwälten bis hin zu dieser Kinotour. Mir ist wichtig, meine Privilegien zu nutzen, anstatt darauf zu hoffen, dass sich jemand anderes um diese Geschichten kümmert.

Was hoffst du, dass die Menschen aus deinem Film mitnehmen?

Rost: Ich glaube, eine Sache, die wir als Filmemacher können, ist es einen Dialog zu gestalten. Wir dürfen niemals damit aufhören einander zuzuhören. Deswegen arbeiten wir auch mit ganz vielen NGOs zusammen. Ganz wichtig ist auch, dass Imad bei unsere Kinotour dabei ist und wir mit ihm reden können, anstatt über ihn zu sprechen. Insofern ist es eine Einladung den Film zu sehen, aber auch ins Gespräch zu kommen. 

Bilder: Benjamin Rost und Ferda Demir via Getty Images

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