»Verschlafen Sie mir nicht die nächsten Wahlen, sonst erscheine ich Ihnen im Traum«

»Verschlafen Sie mir nicht die nächsten Wahlen, sonst erscheine ich Ihnen im Traum«

Altbundespräsident Joachim Gauck im Interview mit Frau Dr. Carolin Wagner (SPD-Bundestagsabgeordnete) im Regensburger Neuhaussaal. Ein Gespräch über die inneren und äußeren Bedrohungen unserer Demokratie.

von Anne Nothtroff

In seinem im Mai 2023 erschienenen Buch geht der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck zusammen mit seiner Co-Autorin Helga Hirsch der Frage nach, warum das Vertrauen vieler Bürger:innen in unsere Demokratie erschüttert ist. Das Buch ist unter dem Titel »Erschütterungen: Was unsere Demokratien von außen und innen bedroht« im Siedler-Verlag erschienen. 

Am 04. März war der Altbundespräsident für eine Lesung und ein Gespräch mit der SPD-Bundestagsabgeordneten des Regensburger Wahlkreises Frau Dr. Carolin Wagner in Regensburg zu Gast. Veranstaltet wurde die Lesung, die im Neuhaussaal des Regensburger Theaters stattfand, von der Buchhandlung Thalia. 

Das Publikum ist die Hauptperson

Nach der Begrüßung von Frau Dr. Carolin Wagner bittet der Altbundespräsident zunächst einmal um mehr Saalbeleuchtung. Er wolle die Menschen, zu denen er spricht, sehen können, denn das Publikum sei bei solchen Veranstaltungen die Hauptperson. 

Das Kernthema des Gespräches ist die innere und äußere Bedrohung der liberalen Demokratie. So ist der Abend auch inhaltlich in die äußeren Bedrohungen durch das imperiale Russland, sowie in innere Bedrohungen durch populistische und anti-demokratische Kräfte unterteilt. Direkt zu Beginn stellt Gauck klar, dass die Begrifflichkeit der liberalen Demokratie keineswegs auf eine bestimmte partei-politische Richtung abziele. Vielmehr gehe es um eine Demokratie, in der nicht nur gewählt, sondern auch die Achtung vor der Herrschaft des Rechtes und der Schutz von Minderheiten gewahrt werde. 

In Bezug auf die äußeren Bedrohungen durch den russischen Angriffskrieg geht Joachim Gauck auf das von vielen vergessene Budapester Memorandum ein. Dabei handelt es sich um ein politisches Abkommen, welches im Jahr 1994 abgeschlossen wurde und über den Verbleib von Atomwaffen aus Beständen der ehemaligen Sowjetunion entschied. Die Ukraine gab damit ihre von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen an die Russische Föderation ab und erhielt im Gegenzug das Versprechen von Großbritannien, den USA und Russland, die Sicherheit, die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine nicht zu verletzen. Widersprüchlich ist, dass ausgerechnet Putin circa zehn Jahre später völkerrechtswidrig die Krim annektierte und ein klares Vorgehen des Westens gegen Russland ausblieb. Auch Merkel sei an dieser Stelle nicht entschlossen genug gewesen, erinnert Gauck. Man gebe die Demokratie auf, wenn man einen Aggressor nicht als Aggressor betitele und in seine Schranken verweise. Schließlich zeige sich die Mafia von einem freundlichen Ladenbesitzer auch nicht beeindruckt, wenn sie nach Geld verlange, so Gauck. 

»Nächstenliebe endet nicht dort, wo es gefährlich wird«

Des Weiteren spricht sich Gauck deutlich für Waffenlieferungen aus. Wenn man der Ukraine als Opfer und überfallenes Land nicht helfe, sei dies nicht nur unmoralisch, sondern auch unpolitisch. Die Ukraine verteidige letztendlich auch unsere demokratische Grundordnung. Im Hinblick auf Gaucks Tätigkeit als evangelischer Pfarrer kommt die Frage auf, inwieweit man sich als christlicher Mensch für Waffenlieferungen aussprechen kann. Für ihn steht jedoch fest, dass es nicht den christlichen Werten widerspricht einem überfallenen Land zu helfen. »Nächstenliebe endet nicht dort, wo es gefährlich wird«, so Gauck. 

Auch die Freiheit muss verteidigt werden

Auf die Frage, ob die diplomatischen Bemühungen gegenüber Russland nicht ausgereicht hätten, erwidert Gauck, dass man darauf warten müsse, bis wieder mehr Diplomatie mit Russland möglich sei. Dass Putin von seinen Kriegszielen abweiche, sei eine klare Voraussetzung dafür. Im Hinblick auf die bevorstehenden US-Wahlen appelliert Gauck, dass die Bundesrepublik die Verteidigungsausgaben ernster nehmen müsse. Eine Wiederwahl Trumps stelle eine große Gefahr für Europa dar, da man auf den militärischen Schutzschirm Amerikas angewiesen sei. Selbst unter Brandts Entspannungspolitik sei die Bundeswehr nicht geschwächt worden, schließlich müsse auch die Freiheit verteidigt werden.  

Im Hinblick auf pazifistische Meinungen zu dem Angriffskrieg macht der Altbundespräsident deutlich, dass der Gedanke mit Friedensliebe die Welt verändern zu können, von romantischer Natur sei. Es spreche nichts gegen Friedensliebe an sich. Sie müsse jedoch durch Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft ergänzt werden. Dabei spreche er sich nicht gegen Diplomatie im Generellen aus, sondern gegen eine Diplomatie, die auf eine angemessene Verteidigung verzichte.

Im zweiten Teil des Gesprächs lenkt Dr. Carolin Wagner den Fokus auf die Kräfte, die die Demokratie von innen heraus bedrohen. Konkret bezieht sie sich auf die wachsenden Zustimmungswerte rechtspopulistischer Parteien. 

Jede Gesellschaft hat einen Anteil strukturell-konservativer Menschen 

Mit Blick auf andere europäische Länder, zeigt der Altbundespräsident auf, dass Rechtspopulismus keine ausschließlich deutsche Entwicklung sei. Auch in den skandinavischen Gesellschaften, die als besonders progressiv gelten, gebe es starke rechtspopulistische Tendenzen. Folglich träfen Aussagen wie »Wer Höcke wählt ist Nazi« nicht ansatzweise die Komplexität des Problems. In seiner Wut würde Joachim Gauck solchen Aussagen zustimmen. Doch einer fachlichen Analyse halten solche Aussagen nicht stand. Es müsse die Frage gestellt werden, warum in Ländern ohne nationalsozialistische Vergangenheit auch rechtspopulistisch gewählt werde. In seinem Buch liefert der Altbundespräsident eine mögliche Erklärung und beruft sich dabei auf Studien der australischen Verhaltensökonomin Karen Stenner. Demnach habe jede Gesellschaft einen bestimmten Anteil an »strukturell-konservativen« Menschen. In europäischen Gesellschaften werde dieser Anteil auf um die 30% geschätzt. Dieser Gruppe von Menschen ist Sicherheit wichtiger als Freiheit, sie haben Angst vor Wandel und scheuen das Risiko. Das Phänomen werde als autoritäre Disposition bezeichnet. Stenner zeigt in ihren Studien, dass diese autoritäre Prägung nicht von der Gesellschaft verursacht wird, sondern vererbt werden kann. Folglich sind autoritäre Dispositionen unabhängig von Herkunftsland, Ethnie, sozialer Schicht oder Religionszugehörigkeit und damit ein normaler Bestandteil jeder Gesellschaft. Problematisch werde es jedoch, wenn der Wandel so stark zunimmt, dass sich strukturell-konservative Menschen »zu Hause nicht mehr zu Hause fühlen«, erklärt Gauck. Viele aufeinanderfolgende Krisen können dieses Gefühl verstärken. Der Satz »Du bist ein Nazi, ich hasse dich« verändere dieses Gefühl nicht. Stattdessen müsse man offen über nicht angegangene Probleme sprechen, auch im Bereich der Migrationspolitik. Viele Menschen hätten sich der AfD zugewandt, weil sie sich von der Union nicht mehr vertreten fühlen. Man bekomme diese Menschen nicht mit sozialdemokratischen und grünen Angeboten zurück, vielmehr brauche es Wertkonservatismus. In der Aufgabe von Friedrich Merz möchte Altbundespräsident Gauck deshalb nicht stecken, gibt dem Publikum aber folgenden Gedanken mit: Man müsse konservativ sein dürfen, denn es gebe Wertvolles, das bewahrt werden müsse, gleichzeitig brauche es aber auch progressive Kräfte, die eine Gesellschaft voranbringen. 

Altbundespräsident Joachim Gauck beim Signieren seines Buches und Beantworten von Pressefragen. Beitragsbild: Anne Nothtroff.

Mit den Worten: »Verschlafen Sie mir nicht die nächsten Wahlen, sonst erscheine ich Ihnen im Traum« beendet der Altbundespräsident seinen Vortrag nach knappen zwei Stunden. Im Anschluss signiert er im Foyer noch zahlreiche Bücher. 

Frau Dr. Carolin Wagner steht direkt nach der Veranstaltung noch für ein Interview zur Verfügung. Darin betont sie die Wichtigkeit der Jugend, sowie die Notwendigkeit der Politiker:innen auf den Internetplattformen präsent zu sein, auf denen sich Jugendliche informieren würden. An junge Menschen appelliert sie, sich parteipolitisch zu engagieren. Politik müsse »von unten gestaltet werden«, so Wagner.

Allerdings waren im Publikum der Veranstaltung nur vereinzelt junge Gesichter zu sehen. Ein Grund dafür war sicherlich, dass für die Veranstaltung ein Eintrittspreis von 20€ verlangt wurde. Möglichkeiten für Ermäßigungen gab es nicht. Doch auch wenn der Anteil junger Zuhörer:innen nicht allzu hoch war, kann dennoch auf eine sehr gelungene Veranstaltung geblickt werden, bei der gesellschaftsrelevanten Themen eine Bühne geboten wurde. Altbundespräsident Joachim Gauck und Bundestagsabgeordnete Carolin Wagner zeigten sich dem Publikum stets zugewandt und bedankten sich auch für kritische Nachfragen aus dem Zuschauerraum.

Die Veranstaltung wurde mit Pressekarten besucht.

Die Fragen für das Interview mit Frau Dr. Carolin Wagner stellten die Kolleginnen des Studentenfunkes. 


Beitragsbild: Wahlkreisbüro Frau Dr. Carolin Wagner 

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