Schreibwerkstatt: »Hand in Hand«

Schreibwerkstatt: »Hand in Hand«

Text zum Thema »Spuren« der Printausgabe 36 der Lautschrift. Geschrieben im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.

von Friederike Jung


Es ist so weit.

Aber ich bin noch nicht so weit.

Er schon, das spüre ich.

Ich nehme seine Hand, kalt und leicht liegt sie in meiner. Ich kann nicht loslassen. Ich kann nicht.

Er sieht so zerbrechlich aus, so zart, so klein. Er, der früher so stark war, der mich nächtelang herumgetragen und mir vorgesungen hat, damit ich einschlafe. Er, der mich jeden Tag von der Schule abgeholt hat. Er, der mich alle Lateinvokabeln abgefragt hat. Er, der mir das Fahrradfahren und das Klavierspielen beigebracht hat. Aber nicht nur das. Alles.

Alles, was ich bin, bin ich durch ihn.

»Und jetzt willst du einfach gehen und mich hierlassen«, sage ich und komme mir dumm vor, weil so viel Trotz in meiner Stimme liegt. Ich fühle mich wie ein kleines Kind. Aber irgendwie bin ich das ja auch, jedenfalls in diesem Moment. Weil ich so machtlos bin.

Ich drücke seine Hand, die mein letzter Rettungsanker ist.

Seine Haut ist so blass, dass sie sich kaum von der weißen Krankenhausbettwäsche abhebt. Alles in diesem Raum ist so entsetzlich weiß. So furchtbar hell, dass es wehtut. Es blendet mich. Und es ärgert mich. Eigentlich sollte alles schwarz sein. Wie mein Herz.

Seine Augen sind geschlossen, er atmet flach und unregelmäßig, jeder Atemzug klingt, als wäre er eine Last für ihn. Ich weiß, dass er nicht mehr hier ist, nicht mehr wirklich.

Ich streichle sanft mit meinem Daumen über seinen kühlen Handrücken.

»Ich bin da«, flüstere ich. So, wie er immer da war.

Ich möchte ihm noch so viel mehr sagen, aber ich fühle nur Schweigen. In mir ist nur Stille. Eine dumpfe Stille, die mich erdrückt und betäubt. Die mir in den Ohren rauscht und meine Gedanken raubt. 

Das alles ist so surreal. So falsch.

Ich drücke seine Hand noch fester. 

Angespannt lausche ich seinem Atem, der immer häufiger aussetzt. Und jedes Mal bin ich erleichtert, wenn er nach endlosen Momenten doch wieder die Luft einzieht. Es klingt angestrengt und rasselnd, aber für mich ist es die schönste Musik auf der Welt.

Ich schaue auf meine Hand, die in seiner liegt. Als wäre das alles, was uns noch verbindet. Was ihn noch hier hält.

Doch sogar seine Hand sieht müde aus. Die Haut ist fahl und fast durchscheinend, tiefe Falten ziehen sich hindurch. Wie Spuren sehen sie aus. Spuren, die das Leben hinterlassen hat.

Und plötzlich schleicht sich ein Lächeln in mein Herz und wärmt mich von innen auf.

Ich drücke seine Hand noch fester, die nicht das Einzige ist, das uns noch verbindet.

Mein ganzes Leben ist voll von seinen Spuren. Genau wie mein Herz. 

Ich sehe, dass der angestrengte Ausdruck in seinem Gesicht einem friedlichen weicht. Ein kleines Lächeln liegt auf seinen Lippen, als er geht.

Beitragsbild: JacksonDavid I pixabay

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert