Hinter fremden Fenstern

Hinter fremden Fenstern

Schatten tanzen hinter Fenstern, während ich meine Bahnen ziehe. Jedes Mal frage ich mich, wer hinter diesen geisterhaften Figuren steckt, die sich in fremden Wohnungen tummeln, vor allem in den Apartments um mich herum. Man wohnt Wand an Wand mit Menschen, die man nicht zu kennen scheint. Aus diesem Grund neige ich dazu, Geschichten über sie zu erfinden, bis ich sie eines Tages vielleicht doch einmal kennenlerne.

von Carina Aigner

Es ist 23:49 Uhr. Ich liege im Bett und lausche den rhythmisch-idyllischen Klängen des Wohnheims, die durch meine Wände aus Papier dringen. Sie halten mich wach, Körper und Geist, stiften meine Gedanken zu Spielen an, zu bunten Fantasien über das, was in den Wohnungen nebenan geschieht. Ich bin erst vor Kurzem hier eingezogen und kenne meine Nachbar:innen noch nicht. Sie sind mir genau so unbekannt, wie auch ich ihnen ein Mysterium bin. Lediglich die Geräusche, welche ich aus ihren Wohnungen vernehme, lassen mich erahnen, welche Personen nebenan leben könnten. Im gleichen Atemzug frage ich mich, welches Bild sie sich von mir machen, wenn sie mich in meinem kleinen Schuhkarton herumstieren hören.

13 Flure befinden sich im Haus, führen an jeweils 17 Türen vorbei, hinter denen sich die unterschiedlichsten Gesichter mit den differentesten Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukunftsperspektiven befinden. Wie kleine Adern ziehen sie sich durch jenen architektonischen Körper, der bereits seit einem siecle an der gleichen Stelle verweilt, sich nicht vom Ort rührt und bereits Zeuge der Zeit wurde und dem, was, oder auch dessen, wen sie mit sich bringt. Sie verbinden uns für einen kurzen Moment, ehe wieder ein: jede:r für sich weiterzieht.

 Auch ich wurde von den Wogen der Zeit an Land gespült und bin selbst in diesem Gebäudekomplex gelandet, nachdem ich mich – einen Tag vor Bewerbungsschluss, wir lieben schließlich das Risiko – für ein Studium an der Uni Regensburg beworben habe. Mit mir kam und ging ein Schwall an Menschen. Die Wohnung wurde vor meiner Ära von einer Psychologie-Studierenden bewohnt, die, jenen Eindruck bekam ich während des ersten Besichtigungstermins, Struktur und Organisation liebte. Die drei Kalender an den Wänden und der Terminplaner auf dem bestens organisierten Schreibtisch ließen meine Fantasie darauf rückschließen. Meine Gedankenfabrik wurde von dem angekurbelt, was ich in jenen 18 Quadratmetern vorfand. Ich liebe es nach wie vor mir Geschichten zu Menschen auszudenken, zu hinterfragen, wer sie sind und wo ihr Weg sie hinführen mag. Wohin ging beispielsweise mein Nachbar am Montagmorgen mit seiner leicht demolierten Aldi-Süd-Tüte? Wer rollt regelmäßig mit seinem – oder ihrem – Pennyboard an meiner Wohnung vorbei und steigt jedes Mal drei Schritte vor der Brandschutztür ab? Und wie verhält sich die Geräuschkulisse, welche ich auf dem Flur hinterlasse, im Vergleich zu der der Anderen?

Durch die Wand auf meiner rechten Seite dringt lauter Krach. Jemand hat wohl etwas fallengelassen, wahrscheinlich etwas Schweres, etwas Gläsernes. Darauf lässt mich der dumpfe Klang des Aufpralls schließen. Es folgt ein lautes Fluchen, genaue Worte kann ich nicht vernehmen. Auch die lustige Möbelrückerin von oben, so nenne ich sie inzwischen, wird wieder aktiv. Jeden Abend verschiebt sie zur gleichen Uhrzeit ihre Möbel. Danach stöckelt sie mit ihren Schuhen einmal über meinen Kopf hinweg, bleibt kurz vor der Haustür stehen, macht kehrt und beginnt ihre Reise dann noch einmal von Neuem. Was sie wohl vergessen hat? Das Handy? Den Geldbeutel? Oder doch etwas vollkommen anderes? Auch von links wird es nun etwas lauter. Es scheint wieder Zeit für eine Crash-Metal-Session zu sein. Ich höre eine tiefe Männerstimme. Laute Schreie stimmen die Melodie des nächsten Songs an, obwohl ich nicht genau weiß, inwiefern ich an dieser Stelle von einem melodischen Gesang sprechen würde. Es fühlt sich viel mehr nach einem emotionalen Loslassen, einem Schrei aus dem tiefsten Inneren an, der die Gefühle, die sich den Tag über wie ein Deckmantel auf seine Haut gehaftet haben, abschüttelt. Der Gesang wird entspannter. Er hat seinen Ton gefunden, glaube ich. Ob C-Dur oder d-Moll kann ich nur bedingt heraushören. Das liegt jedoch tendenziell mehr an meinem mangelnden Wissen über Musiktheorie und nicht an der musikalischen Kompetenz, welche neben mit lebt und leibt.

Ich greife zu meinen Kopfhören. Noise-Cancelling. Manchmal, vor allem Abends, treibe ich mich zur Abwechslung gerne in meiner eigenen Welt und nicht der der Anderen herum. Mein Kopf bietet mir genügend Potenzial, um mich darin zu verlieren, in meinen Gedanken zu ertrinken. Wie ein Sog ziehen sie mich hinab in die Tiefe, vorbei an Stammhirn und Cerebellum, in mein Unterbewusstsein. Ich schere mit meinen Arm nach rechts aus, um mich zu strecken. Dabei fällt mein Fotoalbum, welches ich zuvor klugerweise an der Bettkante positioniert habe, zu Boden und verabschiedet sich mit einem lauten Wumms. Ich grinse. Was sich meine Nachbar:innen wohl denken, was in dieser Wohnung gerade geschieht?


Beitragsbild: Ehud Neuhaus I Unsplash

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