Echtes Licht

Echtes Licht

Eine Kurzgeschichte über das echte Licht, das in vielen Menschen verborgen liegt. An manchen Tagen des Jahres wird dazu aufgerufen, dieses Licht an die Oberfläche zu holen. Doch sobald die Nacht einbricht und der dafür bestimmte Tag endet, liegt das echte Licht wieder im Verborgenen. Als würde es heißen: »Sei stolz an diesem Tag, aber nicht zu sehr an den anderen. Und wenn du nach eurem Tag wieder sicher nach Hause willst, nimm dir einen dunklen Pullover mit, wisch die Farben aus dem Gesicht und steck die Flagge wieder ein. Der Tag ist vorbei.«

von Alessandro Gebsattel

Eine Durchsage übertönt die Musik in meinen Kopfhörern und kündigt die nächste Haltestelle an: Grand Central Station. Tränen der Wolken laufen am kalten Zugfenster entlang. Passagiere stehen auf. Pink Floyd bemüht sich vergeblich, mich zu beruhigen. »Breathe.« Ich beuge mich zum unteren Rand des Fensters hinab, gerade noch rechtzeitig, um einen Regenbogen am Horizont strahlen zu sehen. Der Tag gehört wirklich uns. Dann verliert sich der Zug in der Dunkelheit des Tunnels. Aus meinem Rucksack nehme ich einen kleinen Behälter und lege etwas auf meine Zunge. Endlich frei.

            Fünfzehn Minuten später trete ich aus dem Bahnhof in den grellen Sommertag. Menschen und Autos rauschen wie im Zeitraffer an mir vorbei. Ich hebe meinen Arm, steige in ein Taxi: »Madison Square Park.« Nach wenigen Sekunden sind wir da. Mehr Menschen. Leuchtend und verschwimmend werfen sich ihre Farben durcheinander. Der Lärm des Verkehrs dröhnt von allen Seiten, mischt sich mit Gesprächsfragmenten und Gelächter. Dann sehe ich zwei bekannte Umrisse. Auch sie strahlen und ziehen mich in eine Umarmung. Sie küssen meine Wangen. Ihre Lippen sind zart und kalt auf meinem heißen Gesicht. Ich gebe ihnen den Behälter. In ihren Silhouetten spielt das Licht.

            Einige Straßen weiter. Mein Herz pocht aus weiter Entfernung, als hätte ich es im Zug vergessen. Hunderte von Menschen umgeben uns, schreiten voran und tanzen dabei zu Musik, die noch lauter war als der endlose Verkehr. An ihnen zerschellt das Spektrum des Lichts. Meine Zunge liegt gestrandet in einem Sandmeer. Die bekannten Umrisse entfernen sich. Ihr Leuchten erlischt. Die Welt wird schärfer. An einer Straßenecke erkenne ich zwei Straßenschilder: Christopher Street und darunter »One Way.« Einer. Unserer. Alle um mich herum wirken glücklich. Nein, mehr als das. Fast sto–. Arme werfen sich lachend um mich. Wir gehen wieder gemeinsam und reichen eine Flasche hin und her. Die Papiertüte, in der sie steckt, ist durchnässt. Ich sehe auf und suche nach der Sonne. An einer Kreuzung sehe ich, wie sie langsam am Horizont verglüht. Der Regenbogen von zuvor scheint wie ein ferner Traum.

            Weiches Gras unter meinen Händen. Im Park sind überall Menschen, überall Farben und Geschichten. Mein Blick ist klar, viel zu klar. Ich greife erneut nach dem Behälter. Der Nachthimmel glänzt sternenlos im falschen Licht der Stadt. Wenig später stehen wir auf. Straßen ziehen an uns vorbei. Unter meinen Schuhen spüre ich keinen Asphalt, als würden meine Schritte in der Nachtluft enden. Eine Hand umfasst meinen Arm und ich sehe herab. Ich erkenne ihr Gesicht. Sie fragt mich etwas. Ich nicke. Jemand öffnet den Rucksack auf meinen Schultern. Er streckt mir den schwarzen Hoodie entgegen. Ich kenne auch ihn. Mit seiner Hilfe schlüpfe ich hinein. Die beiden stehen vor mir, auch in schwarz. Kurz zuvor war dort noch so viel Licht – so viel echtes Licht.

            Gleise quietschen unter der U-Bahn. Trotz der Klimaanlage steigt eine bleierne Hitze in mir hoch. Mein inneres Licht verstummt in der Dunkelheit des Hoodies – verborgen, ohne Weg in diese Welt. Auf der anderen Seite des Wagens sitzt eine Gruppe. Auch sie schlüpfen in Pullover, ziehen Jacken über, wischen sich Farben aus den Gesichtern. Ich wende mich fragend zu ihr. In ihren Augen stehen Tränen. Keine Wolken. Die Erkenntnis schlägt wie ein Ziegelstein in das Fenster meines Verstandes. Mein Blick wird klar. Er steht auf und streckt mir die Hand entgegen: »Immerhin hatten wir den Tag.«

Anmerkung: Eine frühere Fassung des Textes findet sich in unserer Printausgabe #34.

Beitragsbild: Jessica Christian via Unsplash

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