»Kein Täter werden« – Ein Leben mit Pädophilie

»Kein Täter werden« – Ein Leben mit Pädophilie

Pädophilie ist zweifellos ein äußerst sensibles und tabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft. Die bloße Erwähnung dieses Begriffs ruft oft ein unbehagliches Schweigen, Abscheu und Wut hervor. Mit Thomas Leitzsch und Marion Dörfler, beide vom Projekt »Kein Täter werden«, hat unsere Kolumnistin über die Prävention und die Unterstützung von Betroffenen gesprochen.

von Kim Kessler

Es gibt verschiedene Gründe, warum wir uns mit Pädophilie gesellschaftskritisch auseinandersetzen sollten. Einerseits die dringende Notwendigkeit, Kinder zu schützen und das Bewusstsein zu schärfen, anderseits zur Förderung von Prävention und Unterstützung für Betroffene mit einer solchen Erkrankung. Indem wir das Thema Pädophilie als Gesellschaft offen angehen, können wir dazu beitragen, Vorurteile und Stigmatisierung abzubauen und eine offene Diskussion zu fördern, die dazu beiträgt, Betroffenen die mit pädophilen Neigungen kämpfen den Zugang zu notwendiger Hilfe und Therapie zu ermöglichen.

Im Folgenden habe ich mit Diplom Psychologin Marion Dörfler und dem psychologischen Psychotherapeuten Thomas Leitzsch von dem Projekt »kein Täter werden« über die Rolle der Prävention von Missbrauch, die Unterstützung von Menschen mit pädophiler Neigung, sowie die psychologischen Aspekte dieser Thematik gesprochen.

Lautschrift: Hallo Marion, Hallo Thomas. Könntet ihr uns zu Beginn etwas über euren Hintergrund und Werdegang erzählen?

Thomas Leitzsch: Mein Name ist Thomas Leitzsch, seit 2020 bin ich als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis und im Projekt »Kein Täter werden« der LMU München am Standort Regensburg aktiv. Zuvor war ich im Bezirksklinikum Erlangen, der Kriseninterventions- und Aufnahmestation der Forensik, dem Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen, dem Frauenmaßregelvollzug, zuständig für die offene Station der §63-er Patientinnen, der Gewalt- und Sexualstraftäter- Ambulanz München und der Psychoonkologie des Universitätsklinikums Regensburg aktiv.

Marion Dörfler: Mein Name ist Marion Dörfler, ich bin Diplom Psychologin und bei dem Projekt »Kein Täter werden« der LMU München am Standort Regensburg tätig. Beruflich aktiv war ich in der forensischen Psychiatrie am Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen, der geschlossenen Aufnahmestation der §63-er Patientinnen, der Abteilung für forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Regensburg.

Direkt zu Beginn eine sehr allgemeine Frage: Was versteht man denn überhaupt unter Pädophilie?

Personen mit einer Pädophilie fühlen sich sexuell von Kindern mit einem vorpubertären Körper, zum Beispiel keine Scham- und/oder Achselhaare, kleine Scheide, kleiner Penis, keine oder minimale Brustansätze, angesprochen, die im Allgemeinen nicht älter als 11 Jahre alt sind. Von den Betroffenen können Jungen- und/oder Mädchenkörper als sexuell erregend empfunden werden. Anders als Personen mit einer Hebephilie. Diese fühlen sich sexuell von Kindern angesprochen, deren körperliche Entwicklung bereits Merkmale der Pubertät aufweist. Es gibt verschiedene Selbstbeobachtungen, die Anlass zur Vermutung geben, dass eine Pädophilie oder Hebephilie vorliegt. Zum einen die sexuelle Erregung beim Betrachten oder beim Kontakt zu vor- und/oder frühpubertären Kindern, sexuell erregende Fantasien in denen vor- und/oder frühpubertäre Kinder eine Rolle spielen, der Konsum von Missbrauchsabbildungen und schlussendlich sexuelle Handlungen vor oder mit Kindern.

Wichtig zu erwähnen ist, dass es Menschen gibt, die unter ihrer Neigung sehr leiden. Mit Blick auf konkrete sexuelle Verhaltensweisen gelingt es einem Teil der betroffenen Personen, ihre sexuellen Impulse lebenslang auf der Fantasieebene zu belassen. Daher sind die Begriffe Pädophilie und Hebephilie nicht zwangsläufig mit sexuellem Kindesmissbrauch oder sexueller Ausbeutung durch den Konsum von Missbrauchsabbildungen verbunden.

Kann man Aussagen darüber treffen, wie es zu einer pädophilen Neigung kommt? Ist diese angeboren?

Nach bisherigem sexualwissenschaftlichen Erkenntnisstand und aufgrund aller verfügbaren Daten muss davon ausgegangen werden, dass sich paraphile Impulsmuster in der Pubertät manifestieren und dann im weiteren Leben unveränderbar sind. Sie sind Schicksal und nicht Wahl. Keiner hat sich seine Präferenzen ausgesucht, sondern diese konstituieren sich in einem bislang noch nicht verstandenen Prozess, der keine kausale Ursachenverknüpfung möglich macht, etwa in dem Sinne, dass Männer mit pädophiler Neigung als Kinder sexuell missbraucht worden seien. Dies trifft beispielsweise nur auf einen kleinen Teil der Betroffenen zu.

Dies macht gerade erforderlich, dass Betroffene sich mit diesen inneren Erlebensanteilen »arrangieren« müssen und dadurch mehr oder weniger stark nicht nur mit Selbstzweifeln konfrontiert sind, sondern vor allem mit der Frage, ob ein Partner oder eine Partnerin sie wirklich akzeptieren würde beziehungsweise könnte. Diese Verunsicherung kann das syndyastische Erleben, sprich »Kann ich beim Anderen wirklich Annahme finden?«, so stark tangieren, dass sie das Anknüpfen von Beziehungen erschwert oder bestehende Partnerschaften besonders gefährdet.

Was bedeutet es für Betroffene unter solch einer Erkrankung zu leiden?

[Annm. d. Redaktion: Um sich ein besseres Bild machen zu können, wurden hierzu Fallbeispiele genannt ]

Anonym

Trotz vieler Anzeichen wollte ich mir fast bis zum 40. Geburtstag nicht eingestehen, »pädophil« zu sein. Ich sagte allen, »noch nicht die Richtige gefunden zu haben«, »viele Enttäuschungen« usw. Ich hatte durch das Unterrichten meines Instruments immer viel mit Kindern zu tun und habe dieses Vertrauen nie missbraucht. Aber umso lebhafter waren meine Fantasien. Durch einen dummen Zufall wurde meine sexuelle Präferenz bekannt und führte sogar zum Verlust meines Arbeitsplatzes.

Moritz, 58, Orchestermusiker

Wirklich klar wurde es mir, als ich in kürzeren Abständen regelmäßig Kinderpornografie konsumiert habe und dem Bedürfnis nicht widerstehen konnte. Es war einerseits sehr erregend dieses Material zu sehen und gleichzeitig war ich voller Angst, weil ich dachte, dass man mich jederzeit erwischen kann. Da war dann auch immer die Unsicherheit, jederzeit rückfällig werden zu können. Und die Angst davor, dafür im Gefängnis zu landen, soziale Kontakte zu verlieren, ausgestoßen zu sein.

Schließt eine pädophile Neigung somit aus, dass sich Betroffene zu Gleichaltrigen hingezogen fühlen? Oder können diese eine Liebesbeziehung zu einer Erwachsenen Person führen?

Eine Präferenzstörung kann ausschließlich vorliegen oder teilweise. Bei ausschließlicher Ausprägung sprechen wir von einer sogenannten »Kernpädophilie«. Somit können Menschen mit einer »teilweisen« pädophilen Präferenz sich auch zu Menschen mit erwachsenem Körperschema hingezogen fühlen.

Lässt sich sagen, wie viel Prozent der Gesellschaft unter einer pädophilen Präferenzstörung leidet und wie viele der Betroffenen tatsächlich straffällig werden?

Das ist schwer zu sagen, da sich Untersuchungen diesbezüglich schwer durchführen lassen. Grund dafür ist, dass sich viele Betroffene im Dunkelfeld befinden. Studien weisen jedoch darauf hin, dass 4,1 % der Befragten über sexuelle Fantasien bezüglich präpubertärer Kinder berichteten.

Was ist der Grund für eine relativ hohe Dunkelziffer? Also warum suchen sich Betroffene häufig keine Hilfe?

Eine intensive Scham und die damit verbundene (reale) Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung ist hierbei sicher die Hauptursache.

Welche Anlaufstellen oder Möglichkeiten gibt es für Betroffene?

Für die Betroffenen, die nicht straffällig geworden sind, gibt es im Wesentlichen nur das Projekt »Kein Täter werden« und eventuell niedergelassene Therapeuten, die es sich zutrauen mit diesen Menschen zu arbeiten. Für Betroffene, die straffällig geworden sind, gibt es die Möglichkeit sich an eine Fachambulanz, mit entsprechenden Therapieauflagen, zu wenden.

Welche Lücken gibt es? Würdet Ihr sagen, das Angebot reicht für die Nachfrage aus?

Prinzipiell sind Menschen in laufenden Gerichtsverfahren bisher nicht versorgt, da hier auch die Frage der Motivation, extrinsisch und auf Strafmilderung hoffend, eine Rolle spielt. Auch für Menschen aus ländlichen Gebieten ist es oft sehr schwierig Angebote wahrzunehmen. Prinzipiell ist der Bedarf an niedergelassenen Therapeuten sehr hoch, die entsprechend ausgebildet eine breitere Versorgung ermöglichen könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kasse über die Diagnose der Betroffenen informiert werden muss, was die Anonymität der Patienten zu wahren, verhindert.

Warum ist das Projekt »Kein Täter werdens so wichtig?

Weil wir ein speziell zugeschnittenes Angebot für die Betroffenen anbieten können – Therapeuten mit entsprechender Erfahrung und mit geeigneter Supervision. Dazu kommt eine garantierte Anonymität, die über die ärztliche Schweigepflicht hinausgeht. Zudem ist unser Angebot überregional mit verschiedenen Standorten und weitestgehend schneller Terminvergabe (Wartezeiten bei niedergelassenen Therapeuten bis zu einem Jahr).

Bisher wird das Projekt noch vom Justizministerium finanziert, langfristiges Ziel ist jedoch eine Kostenübernahme der Therapie durch die Krankenkassen.

Könnt Ihr mir etwas über »Kein Täter werden« erzählen? Wer hat das Projekt ins Leben gerufen?

Das Projekt ist im Jahr 2005 unter der Leitung von Klaus Beier an der Berliner Charite entstanden. Seitdem haben 14 Standorte in Deutschland eröffnet und vier in der Schweiz.

Was ist der typische Verlauf, wenn sich jemand bei euch meldet? Was passiert dann?

Eine Kontaktaufnahme ist regulär und anonym über die Hotline, zwei Mal in der Woche, je eine Stunde, oder per Mail möglich. Dabei erfolgt eine erste Abklärung über die Voraussetzungen einer Anbindung. Als nächstes findet ein erstes persönliches Gespräch zur diagnostischen Einschätzung statt, gefolgt von einer Therapieindikation für ein Einzel- oder Gruppensetting. Eine Therapie dauert im Schnitt ein Jahr, kann aber auch je nach Umständen kürzer oder länger sein. Der Verlauf wird bis Ende 2025 anonymisiert evaluiert, um somit die Wirksamkeit des Projektes objektivierbar zu machen.

[Anmerkung: Unten ist eine Darstellung des Ablaufs nach der Kontaktaufnahme zu finden]

Das heißt das Projekt leistet nicht »nur« Nothilfe, sondern auch längerfristige therapeutische Maßnahmen?

Genau, eine therapeutische Anbindung erfolgt immer so lange sie notwendig ist, was bedeutet, dass die Patienten auch langfristig auf ein Leben ohne Straftat vorbereitet werden sollen.

Können sich bei euch nur Betroffene melden, die noch nicht straffällig geworden sind oder auch bereits Straffällige?

Auch Straffällige Betroffene können bei uns Therapie erhalten, wenn nach Erfüllung einer entsprechenden Auflage noch Bedarf ist oder eine Strafe verbüßt wurde und keine Therapieauflage erteilt wurde.

Wenn wir schon bei dem Thema Therapie sind, wie »therapiert« man denn Pädophilie? Was ist dabei schlussendlich das Ziel?

Prinzipiell kann man eine Präferenz nicht wegtherapieren. Es geht um ein Leben mit der Präferenz, also Identifikation von Risikofaktoren, welche Schutzfaktoren gibt es und wie lassen sich diese stärken. Ähnlich wie bei einer Abhängigkeitserkrankung müssen Betroffene ein Leben lang darauf achten, nicht wieder in alte oder destruktive Verhaltensmuster zu verfallen. Die Therapie kann dabei sehr kreativ und lebensbejahend gestaltet werden.

Was ist aus eurer Erfahrung die größte Herausforderung in der Therapie mit Betroffenen?

Die Betroffenen zu erreichen. Scham und gesellschaftliche Stigmatisierung sind immense Hürden auf dem Weg der Betroffenen, um sich Hilfe zu suchen.  Schon das eingestehen, Hilfe zu brauchen ist für viele ein Schock und das gilt schon für Menschen die unter Ängsten oder Depressionen leiden. Bei einer Präferenzstörung kommt oft noch die Unwissenheit dazu, woher man überhaupt Hilfe bekommt.

Wie würdet Ihr sagen geht die Gesellschaft momentan mit diesem Thema um und gibt es etwas das wir als Gesellschaft tun können, um Straffälligkeit vorzubeugen?

Zu dieser Frage fallen mir vor allem Boulevardmedien ein, die im Fernsehen mit prominenter Unterstützung zur Jagd auf Pädophile aufrufen, oder das öffentlich nach Registern für Sexualstraftätern verlangt wird.

Wie so oft ist es eine Frage, wie wir miteinander umgehen wollen. Angst und Gewalt sind definitiv keine Strategien, die wir hier im Projekt vertreten. Wir stehen für Akzeptanz aber auch für Verantwortungsübernahme.

[Interview Ende]

Nach diesem Gespräch lässt sich von meiner Seite somit sagen, dass in Anbetracht der tiefgreifenden Auswirkungen von Pädophilie auf individueller und gesellschaftlicher Ebene es unerlässlich ist, dass wir uns dem Thema mit Offenheit, Sensibilität und Empathie nähern. Die Stigmatisierung von Menschen mit pädophilen Neigungen hat dazu geführt, dass sie oft im Verborgenen bleiben und keine angemessene Hilfe oder Therapie erhalten. Es ist wichtig zu betonen, dass die Diskussion über Pädophilie nicht bedeutet, die Handlungen oder Taten zu legitimieren, es geht vielmehr darum, Prävention zu fördern, Betroffenen Unterstützung anzubieten und diejenigen, die Hilfe suchen, in einen therapeutischen Rahmen zu bringen. Es liegt an uns als Gesellschaft, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Menschen, unabhängig von ihren inneren Konflikten, Unterstützung und Behandlung finden können. Pädophilie ist zweifellos ein schwieriges Thema, aber durch einen offenen Austausch, können wir den Weg für Prävention, Schutz von Kindern und die Förderung einer empathischen und inklusiven Gesellschaft ein Stück weit ebnen.

Abschließend nochmal ein riesiges Dankeschön an Marion Dörfler und Thomas Leitzsch für die Zeit und Mühe.

Behandlungsablauf bei »Kein Täter werden«

Weitere Quellen:

https://www.kein-taeter-werden.de/betroffene/

https://sexualmedizin.charite.de/ambulanz/sexualstoerungen/praeferenz/

https://www.disno.ch/wp-content/uploads/2017/01/146-Dombert_Schmidt_et_al.2015.Sexual_interest_in_children_JSR.pdf“

Dombert, B., Schmidt, A. F., Banse, R., Briken, P., Hoyer, J., Neutze, J., & Osterheider, M. (2016). How common is is men’s self-reported sexual interest in prepubescent children?. The Journal of Sex Research, 53(2), 214-223.)

Titelbild: Waldemar Nowak I Pexels

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