London 2015

London 2015

Bei seinem vierten Räusperer verspürte ich plötzlich den starken Wunsch aufzustehen und zu gehen. Ein paar Schritte nur, oder vielleicht ein paar mehr, eventuell zur Tür, um den Zug bei dem nächsten Halt zu verlassen.

von Felicitas Böhm

Der Zug spielte sein Lied ohne jegliche Variationen. Das Lied hatte eine ermüdende, gar hypnotische Wirkung, die den Fahrgästen anzusehen war. Schräg gegenüber saß ein Herr und las Zeitung. Theoretisch las er sie. Praktisch sah er durch sie hindurch, als hätte er sie nur aufgeschlagen, um einem Klischee zu entsprechen, in dem er sich selbst nicht wiederfand.

Ich hingegen fand mich ausgesprochen erfolgreich in einem Klischee wieder. Es war das der jungen Reisenden, pochend auf Neues und Unbekanntes. Ich verkörperte sie vor allem durch mein Gepäck und meinen gedrungenen Blick, auch wenn ich bezweifelte, dass sich jemand meinem Blick näher widmete. Die Fahrgäste versuchten sich in einem Balanceakt zwischen Produktivität und Entspannung. Die Zugfahrt ließ sie für einen Moment ausharren, weit entfernt von den Qualen des Alltags. Sie befanden sich in dem Genuss für einen Moment, zwischen Fremden abtauchen zu können.

Durch das Fenster sah ich das graue London vorbeiziehen, es war belebt und doch verspürte man eine gewisse Schwere, melancholisch im positiven Sinne. Im sehnsüchtigen Sinne, als ob man Sehnsucht nach dem verspürte, was man in genau diesem Moment hat, weil man sich im Klaren ist, dass der Moment vorbeigehen wird. Sehnsucht im Voraus.

„Entschuldigung, Sie blockieren die Sicht.“ Mein Sitznachbar versuchte einen Blick auf die Themse zu erhaschen, die wir soeben über die Blackfriars Railway Bridge überquerten. Vornehm und galant erstreckte sich der Fluss zu beiden Seiten. Ich wandte mich ihm zu und blickte in ein angestrengtes Gesicht. Sein dunkles Haar klebte leicht an der Stirn fest, er trug einen Schal. Ich lehnte mich leicht zurück und sein Smartphone schnellte hervor wie ein Raubtier: „Ich brauche einige Fotos als Andenken.“

Ich nickte. Nicken drückt Zustimmung aus, manchmal Akzeptanz, manchmal auch Gleichgültigkeit. Ich nickte und sah wieder aus dem Fenster. Sein Handy schwebte neben meinem Gesicht. London, grau, melancholisch im negativen Sinne. Erdrückend. Und immer so windig.

Der Mann mit dem angestrengten Gesicht hatte seinen Fotodurst gestillt und zog sich auf seinen Platz zurück. „Machen Sie keine Bilder?“, fragte er mich, fast vorwurfsvoll. Ich verneinte. Er vertiefte sich kopfschüttelnd in sein Buch.

Das vorbeiziehende London hatte meine volle Aufmerksamkeit. Ich hätte meinen Kopf nicht vom Fenster abwenden können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Gefesselt. Aber von was? Es war doch nur ein Fluss, der nun schon wieder Vergangenheit war. Ein geflüchteter Moment der Eleganz. Nun wieder trostlose Häuserfronten.

Der Mann neben mir räusperte sich. Ob er wohl Halsschmerzen hat, fragte ich mich und, ob ich ihn nach seinem Befinden fragen sollte. Aber Menschen teilten einem ihr Leid meist von selbst mit. Das liegt in ihrer Natur. Anders als manche Tiere, die sich selbst zu helfen wissen, ist der Mensch doch immer auf andere angewiesen. Und da man sich nicht darauf verlassen kann, dass Mitmenschen das eigene Leid erkennen, hat der Mensch gelernt, sich mitzuteilen.

Er teilte sich jedoch nicht mit. Er räusperte sich lediglich zwei weitere Male, was unter Umständen sein Weg der Mitteilung war. Man konnte nie sicher sein. Bei seinem vierten Räusperer verspürte ich plötzlich den starken Wunsch aufzustehen und zu gehen. Ein paar Schritte nur, oder vielleicht ein paar mehr, eventuell zur Tür, um den Zug bei dem nächsten Halt zu verlassen. Ich fühlte mich klaustrophobisch. Das war noch nie vorgekommen und ich wunderte mich. Ich zerbrach mir geradezu den Kopf darüber. Der Zug war schmaler geworden, um in den Tunnel zu passen, der nun vor uns erschien. Das musste der Grund für die Klaustrophobie sein. Ich wollte aufatmen, doch es fiel mir schwer. Alles war schwarz um mich herum und ich dachte an die Themse, wie weitläufig sie war und wie leicht einem das Aufatmen doch fiel, wenn man die Themse überquerte. Da sowieso schon alles schwarz war, schloss ich die Augen und stellte sie mir vor. Ich spürte den Wind meine Wangen entlang streichen und atmete tief ein und aus. Der Geruch von Wasser stieg in meine Nase, während ich mir nicht sicher war, ob ein solcher Geruch existierte.

Ich öffnete die Augen und stand auf. Der Zug fuhr nun durch Englische Straßen, die ganz anders wirkten, hier auf der anderen Seite des Tunnels. Alles war in Sonnenlicht getaucht, kein Grau weit und breit. Ob das die bessere Seite Londons war? Ich betrachtete die Menschen. Tatsächlich kamen sie mir besser vor. Strahlender. Obwohl es unmöglich der Fall sein konnte, wirkten sie, als ob sie nicht von den simplen Dingen des Lebens getrieben werden würden. Sie bewegten sich bedacht, den Moment auskostend. Sie hatten kein Interesse daran, sich mit belanglosen Dingen wie Arbeit oder Essen zu befassen.

Ich war ein paar Schritte gegangen, blieb aber stehen, um den Sinn dahinter zu finden. Der neu entdeckte klaustrophobische Teil meiner Persönlichkeit war für diesen Moment besiegt, wir hatten den Tunnel verlassen. Ich setzte mich.

Ich spürte den Blick des Mannes auf mir ruhen, wandte mich ihm aber nicht zu. Der Versuch, herauszufinden was mir daran widerstrebte ihn anzusehen, endete in aufkommendem Schwindel. Ich wurde überzeugter, dass ich die Bahn zum nächstmöglichen Zeitpunkt verlassen sollte. Draußen vergoldete das Sonnenlicht die Mauern und die Gesichter der Menschen. Ich wollte raus, ich wollte auch vergoldet werden.

Die Bahn wurde langsamer und hielt schließlich an. Ich hörte die Schritte des Mannes, der mir gefolgt war und hinter mir den Zug verließ. Erneut dieses Gefühl der Bedrängung, es drängte von hinten und obwohl vor mir alles frei war und man doch nach vorne atmet und man somit annehmen könnte, dass das Atmen unter diesen Umständen unbeschwert vonstattengehen müsse, kam es mir wie eine Herausforderung vor. Vielleicht hatte ich es verlernt, das Atmen.

Ich wusste nicht, wo ich mich befand. Ich sah den Mann mit dem angestrengten Gesicht auf sein Handy starrend eine Richtung einschlagen. Mit Abstand folgte ich ihm durch das leuchtende London. Ich sah die vergoldeten Menschen nun aus nächster Nähe. Ich war unter ihnen, aber nicht eine von ihnen, sondern nur eine der Fremden in der Stadt. Und doch fühlte man sich auf eine Weise sehr wohl zwischen diesen Menschen. Sie wussten ja nicht, dass ich eine Fremde war. Oder doch? Konnte man es meinem Blick entnehmen, der alles Ungewohnte, alles Neue, zu verschlingen schien? Niemand sonst nähme sich die Zeit, alltägliche Dinge zu betrachten. Obwohl man dadurch nie wissen kann, ob sich das Alltägliche gewandelt hat. Es könnte sich verändern, ohne dass es eine Seele bemerkte. Auch der aufmerksame Fremde bemerkte dies nicht, da er nicht wissen konnte, wie es davor gewesen war.

Ich folgte dem Fremden wie blind durch das unüberblickbare Netz aus Gassen. Er seinerseits folgte seinem Handy. Beidseitig umgaben uns hohe, nahtlos ineinander übergehende Gebäude, verkleidet von teils verzierten, teils schlichten Steinfassaden.

Schatten legten sich über das Kopfsteinpflaster und die Gesichter. Ich beobachtete den Mann mit dem angestrengten Gesicht, der in großem Abstand vor mir lief. Sein Handy war das einzige, das zu ihm sprach. Er war sehr intensiv damit beschäftigt, fast studierend neigte er seinen Kopf über das Gerät. Er verpasste so die Stimmung des Kopfsteinpflasters und der Fassaden und ließ sich die englische Kulisse entgehen. Dafür nahm ich alles in mir auf, fast wie für zwei.

Beitragsbild: TheOtherKev auf Pixabay

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