Ein verstimmtes Instrument

Ein verstimmtes Instrument

Text einer Psychologiestudierenden zur neuen Konzeption der Masterstudiengänge in Psychologie. Was läuft da schief in der Hochschullehre? Ein Kommentar.

von Anonym

Vor einigen Tagen treffe ich auf dem Weg zur Mensa einen Kommilitonen. Wir besuchen einmal die Woche gemeinsam ein Seminar. Was ich an dem Seminar am meisten mag: ihn. Was ich an ihm am meisten mag: dass er nicht still alle Arbeitsaufträge ausführt, dass er nachfragt, nachdenkt, dass er laut ist inmitten all dieser hinnehmenden Stummheit.

Er erzählt mir, er werde nicht mehr kommen. Er habe keine Lust mehr, noch ein Referat vorzubereiten und oder anzuhören, das im Endeffekt eine gesichtslose Zusammenfassung mehrerer Lehrbuchkapitel darstellt und am Ende sowieso nur deshalb überhaupt gehalten wird, weil die Dozierenden keinen Bock auf Lehre haben.

Etwas in mir bewegt sich.

Was universitäre Belange angeht, so habe ich bisher die Einstellung vertreten: Bildung ist ein Privileg und ich gehöre zu den privilegiertesten Menschen dieser Erde, ich werde meine Kraft also nicht dafür aufwenden, mich über dieses Privileg zu echauffieren. Da gibt es wichtigere Dinge.

Aber was, wenn es nicht nur um die Ungerechtigkeit geht, um die Enttäuschungen, die wir im Studium erfahren? Was, wenn Lücken in unserer Bildung, in unserem Bildungssystem, Auswirkungen auf ein größeres System haben? Wenn wir die Zukunft sind, die wir uns selbst verbauen, weil wir leise bleiben, obwohl wir laut hätten werden müssen?

Ich studiere Psychologie im Master. In meinem kompletten Bachelorstudium gab es eine einzige Klausur, die nicht aus Auswendiglernen und im Multiple-Choice-Format Gelerntes wiedergeben (oder Single-Choice, eine gesunde Abwechslung ist schließlich wichtig) bestand. Offene Fragen, open book, 48 Stunden Zeit. Ich habe 18 Seiten abgegeben, so groß war mein Drang und meine Freude, endlich zeigen zu dürfen, dass ich ein Mensch mit einem sehr funktionsfähigen und vor allem sehr eigenständigen Gehirn bin.

Wohlgemerkt, die Psychologie ist die Disziplin, die überhaupt erst erforscht hat, wie nachhaltig Auswendiglernen ist. Teaser: nicht sehr nachhaltig.

In meinem Studienfach gibt es keine einzige Veranstaltung zum Thema emotionale Kompetenz, Selbstfürsorge, kein Seminar zum Thema: „Wie werde ich ein:e gute:r Therapeut:in?“. Schon gar nicht: „Wie werde ich ein guter Mensch?“ – oder: „Was ist das überhaupt, ein guter Mensch?“. Niemand hat uns nahegelegt, uns damit auseinanderzusetzen, was Menschlichkeit bedeutet. Wärme, Authentizität, Charakterstärke.

Dafür sollte ich theoretisch in der Lage sein, das Maximum-Likelihood-Verfahren zur Parameterschätzung im Rahmen eines Strukturgleichungsmodells herzuleiten. Teaser: kann ich nicht.

Ich studiere Psychologie, die Wissenschaft der Seele. Obgleich schon der Begriff Seele strittig sein mag, scheint es mir, als nähme die Wissenschaft in dieser Beziehung ungebührend viel Raum ein und als ginge die Seele mehr und mehr verloren. Zu bemängeln scheint an dieser Aussage: ich studiere nicht Philosophie, die Psychologie ist eine Naturwissenschaft, keine Geisteswissenschaft. Zu bemängeln scheint mir an dieser Ansicht: wie viel Veränderung, Fortschritt zum Besseren haben denn derart gewonnene Erkenntnisse in den letzten 100 Jahren erwirkt? Ist es vielleicht Zeit, umzudenken, weniger rigide zu sein, dafür aber integrativer, innovativer?

Ich bin verstimmt. Ein verstimmtes Instrument in diesem Orchester, das schon mit Dirigent:in nur mäßig zusammenhält. Das zusammenhält, weil niemand laut genug wird, um alle einmal gehörig wachzurütteln. »HALLO!« möchte ich schreien, auf die Gefahr hin, dass mich alle verständnislos anschauen. Manchmal fühle ich mich wie eine Außerirdische in den Vorlesungen.

Da sind Saiten in mir, die wollen berührt, gezupft, zum Klingen gebracht werden. Da ist ein Klangkörper, ein Volumen, das möchte gefüllt werden. Meine Kapazitäten warten nur darauf, Input zu bekommen, mein Gehirn möchte schäumen, kreischen, sich matern, Erfolge verzeichnen. Ich will nicht auswendig lernen, was ich später nicht mehr brauche und oder einfach innerhalb von wenigen Sekunden googlen kann. Gegen einen Computer verlieren wir mit dieser Strategie sowieso, dafür sind wir nicht gemacht. Ich will Aha-Momente, ich will Anregungen zum Nach-Denken. Ich will geschult werden im Kritisch-Sein, provozieren, mir eine Meinung bilden, mich bilden, einen Charakter mit Stärke, Interesse, Offenheit und Nachgiebigkeit.

Universität, das heißt Forschung und Lehre. Ihr bildet die nächste Generation, ihr erzieht die Zukunft. Das ist nicht einfach, ich weiß das, aber das ist nun mal eure Aufgabe.

Müssen wir groß denken, um unsere Realität einer anderen weichen zu lassen? Brauchen wir ein großes, lautes Orchester mit vielen Solist*innen, die die Welt zum Klingen bringen und der Veränderung einen Weg bahnen?

Schafft diese verdammten Multiple-Choice-Klausuren ab und lasst uns mehr mitreden, was die Wahl der Referate angeht. Mehr will ich für’s Erste gar nicht.

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