Wohnsinn-Kolumne: Von Baumkronen-Kletterern und Eichhörnchen-Vorspiel

Wohnsinn-Kolumne: Von Baumkronen-Kletterern und Eichhörnchen-Vorspiel

Nachdem Verena vor ein paar Wochen vom Tauben-Nachwuchs auf dem Wohnheimbalkon berichtet hat, wird es Zeit, dass ich Euch von meinem tierischen Nachbarn erzähle. Ich präsentiere: Erwin, das Eichhörnchen.

von Lotte Nachtmann

Über meine Nachbar*innen habe ich ja schon so einige Male geschrieben und ich gebe zu, dass ich den Wohnsinn mehr als einmal dazu genutzt habe, um meiner Wut über sie Ausdruck zu verleihen. Aber da gibt es seit einigen Monaten noch einen anderen Nachbarn. Und dieser löst weder Belustigung noch Entnervung oder stark übertriebene Aufreger über missglückte Weihnachtsdeko aus (by the way: die erwartet mich ja bald wieder. Urrghh!!!). Dieser Nachbar feiert keine Partys bis mitten in die Nacht, hat kein schlecht erzogenes, kläffendes Bockwürstchen auf Zahnstochern als Haustier und stellt auch keine Möbelstücke mitten ins Treppenhaus. Nein, dieser Nachbar löst stattdessen regelmäßig Begeisterungsschreie bei meiner Mitbewohnerin und mir aus, wenn wir ihn vor unserem Fenster erblicken. Aber keine Angst, es handelt sich nicht um Stalking-Versuche in einer zu dicht bebauten Hochhaussiedlung. Unser Nachbar wohnt nämlich in den Bäumen direkt von Maries und meinen Schlafzimmerfenstern. Und wieder nein, er ist kein fanatischer Kletterfreak, obwohl klettern kann er sehr gut. Solche Skills würde ich mir in der Boulderhalle regelmäßig wünschen. Wer ist denn nun aber dieser mysteriöse Nachbar? Tada: Es ist ein Eichhörnchen. Und nicht irgendein Eichhörnchen. Es ist Erwin, das Eichhörnchen. Zwar ist er für ein europäisches Eichhörnchen erstaunlich dunkel gefärbt, aber für ein amerikanisches ist er trotzdem zu klein. Jene transatlantischen Artgenossen, die hier in Europa die Hörnchenwelt nicht nur auf positive Weise durcheinander gebracht haben. Erwin hat neben dem dunklen Fell auf der Brust auch eine weiße Blesse und ist auch sonst ein Prachtexemplar an Kleinnager.

E wie Eichhörnchen

Erwin begleitet meine Marie und mich jetzt schon einige Monate. In schöner Regelmäßigkeit sehen wir ihn, wie er die Bäume rauf und runter rennt, auf einem Ast Platz nimmt, um einen Zapfen zu vertilgen oder eifrig nach anderer Nahrung sucht. Und wie man das als 23-jährige junge Frau so macht, habe ich mir gleich einen Namen ausgedacht, der ganz in Kindergartenmanier mit demselben Anfangsbuchstaben wie der Tiername beginnt. So war Erwin auch schnell getauft. Da man bekannterweise zu Tieren und auch Dingen, denen man einen Namen gibt, direkt eine enge Bindung aufbaut, machen wir uns inzwischen regelrecht Sorgen, wenn wir Erwin mal ein paar Tage lang nicht sehen. Und die Erleichterung ist groß, wenn man dann die kleinen Eichhörnchen-Krallen auf der Rinde der Stämme hört und ihn auch kurze Zeit später durch die Baumkronen flitzen sieht. Gekonnt springt er von Ast zu Ast und das ganze in Höhe unserer Wohnung, die sich im vierten Stock befindet. Und die Bäume neben dem Haus sind noch einige Meter höher.

Sogar Verfolgungsjagden meistert er in diesen schwindelerregenden Höhen mit Bravour. Eines Sommertages hörte ich – am offenen Fenster sitzend – plötzlich ein lautes Rascheln und Kratzen im Eichhörnchenbaum. Und schon flitze Erwin vorbei. Doch er war nicht alleine. Er verfolgte ein zweites Eichhörnchen in typisch orangener Färbung. Rauf und runter ging die Hetz und zwar immer spiralförmig um den Baumstamm. Dieses Szenario ereignete sich in den Folgetagen noch mehrmals. Irgendwann wurden wir natürlich neugierig und Google verriet mir, dass es sich bei solchen Verfolgungsjagden um Eichhörnchen-Balzverhalten handelt. Das orangene Hörnchen, das wir daraufhin übrigens Elfrieda getauft haben, musste wohl ein Weibchen sein, dessen Gunst Erwin ergattern wollte. Dieses Eichhörnchen-Vorspiel bestätigte schließlich, das Erwin auch ein Erwin und keine Edith ist. Und schon malten Marie und ich uns aus, wie wir bald kleine Eichhörnchen-Babys in den Bäumen beobachten könnten. Leider haben wir diese – wenn es sie überhaupt gab – nie zu Gesicht bekommen, denn Elfriedas heimatlicher Baum befindet sich auf der anderen Seite des Hauses, außerhalb der Beobachtungsreichweite. So beließen wir es dabei, uns das hörnchenhafte Paarleben oder erste Ehestreitigkeiten auszumalen, als Erwin dann wieder alleine vor unseren Fenstern rumturnte.

Wissenswertes aus dem Sachkunde-Unterricht

Zur Zeit ist er fleißig dabei, seinen Wintervorrat anzulegen. Denn anders als andere Tiere halten Eichhörnchen keinen Winterschlaf, sondern nur eine Winterruhe, während der sie immer mal wieder aufwachen, um sich auf die Suche nach vergrabenen Nüssen und Kernen zu begeben … wenn sie sich daran erinnern. Da ist ja doch noch was hängen geblieben von dem Sachkundereferat in der Grundschule. Scheinbar rechnet Erwin mit der Goldfischigkeit seines kleinen Hörnchenhirns, denn so viel Nahrung, wie er sammelt, reicht für eine ganze Kompanie von Nagern. Es gibt aber schon erste Anzeichen, dass er sich bald zur Winterruhe in seinen warmen Kobel zurückziehen wird. So saß er diese Woche früh morgens auf einem Ast, in seinen buschigen Schwanz eingewickelt und schien zu frösteln. Deshalb genießen Marie und ich jetzt noch die letzten Wochen, in denen wir ihn tagtäglich rumtollen sehen, bevor wir uns für ein paar Monate zumindest von der Regelmäßigkeit seiner Besuche verabschieden müssen. Andererseits ist das zu Semesterbeginn auch gar kein so schlechtes Timing: Denn wenn es eines gibt, dass Erwin mit unseren anderen Nachbar*innen gemeinsam hat, dann dass er uns hin und wieder vom Lernen abhält. Aber einem süßen, knabbernden Eichhörnchen verzeiht man das viel eher als nervigen Karaoke-Fans.

Was Selina aus ihrem Heim zu berichten hat, erfahrt Ihr dann nächste Woche wieder.

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