Batophobie – die Angst vor großen Gebäuden

Batophobie – die Angst vor großen Gebäuden

Ein Bericht über Vorstellung und Wirklichkeit des ersten Semesters

Als ich elf Jahre alt war, fing meine Mutter an, meine akademische Laufbahn als gesichert anzusehen und begründete das folgendermaßen: »Ach, die muss einfach studieren, zum Arbeiten kann man sie wirklich nicht gebrauchen.« Das fand ich mit elf Jahren natürlich sofort großartig. Ich stellte mir das aufregende Leben eines Hochschülers als das eines großen und genialen Künstlers vor – weil man ja, laut meiner Mutter, nicht arbeiten muss. Vor allem dachte ich das, wenn ich wieder einmal unwesentliche Spannungen in meinem familiären Umfeld ausgelöst hatte – durch ungeschicktes Einräumen des Geschirrspülers beispielsweise, oder aufgrund langwieriger und genauer Analysen davon, warum es statisch gesehen eher ungünstig ist, dass die Schraube am Fahrradlenker meines kleinen Bruders wackelt (natürlich ohne sie währenddessen oder im Nachhinein festzuziehen). Optimale Voraussetzungen, so lautete die einhellige Meinung, und ich nahm es als Kompliment.

Im Laufe der Jahre festigte sich dann mein Bild vom Studium als eine Art riesengroßer Ferien, in denen man sehr viel Hochkonzentriertes, sowohl in flüssiger als auch in geistiger Form, konsumieren darf. Währenddessen beflügelt man natürlich die Forschung im jeweiligen Fachgebiet durch revolutionäre Arbeiten, avanciert dadurch praktisch über Nacht zum Superhelden und reißt schließlich die Weltherrschaft … Nunja. Natürlich malte ich mir das anfangs besonders phantasievoll aus, mit elf Jahren.

Und nachdem ich endlich das Abitur in der Tasche hatte, ließ ich mich auch von den Berichten der Gleich-ins-Sommersemester-gehüpft-Studenten nicht entmutigen. »Stress« war ja bis jetzt auch ein relativ bis sehr unbedeutender Begriff, dem man in Deutsch- und Englisch-Leistungskursen eher weniger begegnet.

Ich schaffte es also irgendwie, innerhalb der letzten zwei Tage vor Einschreibungsbeginn, hektisch noch alle notwendigen Unterlagen zu besorgen (schließlich war ich während der vier Monate vorher der Meinung, dass der Satz »Da musst du dann nichts Besonderes mehr machen« dem Satz »Da musst du dann gar nichts mehr machen« entspricht) und fand mich letztendlich als frischgebackene Studentin wieder. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, in möglichst viele RVV-Verkehrsmittel nacheinander zu steigen, um mich gebührend über mein Semesterticket zu freuen. Irgendwann führten mich diese exzessiven Busfahrten auch zu einer Freundin, die meinen Studienanfang entscheidend beeinflussen sollte: Sie gab mir meinen allerersten Plan der Uni. Wenn ich in dem Augenblick gewusst hätte, wie dankbar ich ihr dafür noch sein würde, ich hätte sie wahrscheinlich jubelnd auf Händen durch ihre Wohnung getragen.

Denn als ich ein paar Wochen später nach dem Auszug von zu Hause und den daraus resultierenden regelmäßigen Endorphinschüben, verzweifelt die Räume für meine Einführungsveranstaltungen suche, wird mir klar: Wenn dieser Plan in den nächsten Wochen aus meiner Reichweite verschwindet, bin ich dem Untergang geweiht.

Ein bisschen verloren folge ich, die ihre letzten neun Jahre bildungstechnischer Laufbahn auf einem kleinen, netten 500-Seelen-Gymnasium in einem beschaulichen Städtchen verbracht hat, einer Unmenge an fremden Menschen in die Einführungsveranstaltungen meiner Fächer. Von denen erhoffe ich mir hauptsächlich, dass sie mir irgendwie erklären, wie so ein Stundenplan zusammenzubasteln ist – Anhaltspunkte dazu gibt es natürlich, ich schreibe eifrig mit, obwohl ich einigermaßen bis sehr wenig Ahnung davon habe, was ich eigentlich genau aufschreibe und hoffe, die ganzen Abkürzungen, deren Bedeutung mir schon während ich sie hinkritzle entgleitet, später googeln zu können. Immerhin habe ich jetzt eine leise Ahnung davon, was Module eigentlich sind.

Und natürlich kommt zu Hause, als ich alleine und mit dem Ziel, jetzt aus Buchstaben und Zahlen mein nächstes halbes Jahr zu basteln, vor dem Internet sitze, was kommen muss: leichte Anflüge von Panik. Vor allem, als ich auch in diversen sozialen Netzwerken online niemanden erreichen kann, der sich meiner annehmen würde und gleichzeitig Ahnung von Regensburger Stundenplanerstellung hat. So viel Freiheit bezüglich Terminen ist man als Schüler nicht gewohnt. Ich fühle mich schon wieder leicht verloren. Kurse suchen, Onlineanmeldungen, Kurse nicht finden, Taler setzen, pokern … Mir schwirrt der Kopf. Und anschließend fühle ich mich sehr dreist, als ich mir endlich einen langjährigen Traum erfülle: vormittags ausschlafen können. »Irgendwie muss das doch falsch sein, ich mache da doch einen Fehler, das kann doch so gar nicht gehen … «, sagt mein Gymnasiumsgehirn. Aber nach drei Stunden Bastelei merke ich stolz: Es geht anscheinend doch. In den nächsten drei Tagen schaffe ich es, mir in allen meinen Wunschkursen einen Platz zu sichern, entgehe einem Herzinfarkt in den Kursanmeldungsveranstaltungen aber nur knapp. Der Teil meiner Freunde, der schon studiert, ist davon nicht ganz so begeistert wie ich – ich lasse mich aber nicht entmutigen.

Immer noch von den Nachwirkungen meiner in meinen Augen ziemlich gut gelungenen Stundenplanpokerei beseelt, mache ich mich schließlich an meinem allerersten Unitag um elf Uhr mittags in meinen ersten Kurs auf. Der Name meines angestrebten Raumes besteht aus einer Kombination von einigen Buchstaben und vielen Zahlen. Ein Blick auf meinen Lageplan der Uni beruhigt mich ein wenig. PT heißt ein Gebäude. Das ist gut. Ich habe ja schließlich noch eine halbe Stunde Zeit und laufe also mit dem Plan in der Hand über den Campus, nachdem ich nach einer kleinen Suche auch meinen momentanen Standort gefunden habe.

Nach ein paar Minuten begegne ich einer Bekannten, die gerade an ihrer Bachelorarbeit schreibt und deswegen »so viel wie möglich ziellos in der Uni herumlaufen« muss, weil das beim Nachdenken hilft. Gottseidank, die kennt meinen Raum bestimmt. »Du, hast du eine Ahnung, wie ich zum PT zweihundert … zwölf … A … Punkt … Vier … oder so … irgendwie … hinkomme?« Die Antwort ernüchtert mich leider: »PT? Ja, das hat eine echt komische Architektur. Da kenne ich mich auch nie aus.« Ich ziehe also mit meinem treuen Stück Papier wieder von dannen. Und lande dann auch wirklich vor dem gesuchten Zimmer – in dem noch absolut niemand sitzt, weil ich eine Stunde zu früh dran bin. Kurz aufatmen. Ein bisschen fühle ich mich wie ein Sieger, als ich auch die nächsten Räume ohne größere Probleme und mit viel Hilfe meines bunten Planes finde – auch wenn ich ein paar Tage später aus Versehen anstatt in meiner British Studies-Vorlesung in einem spärlich besuchten Lateinkurs lande.

In der zweiten Woche bin ich zwar im Finden von Räumen erheblich fitter, dafür erhält meine entspannte Leistungskurs-mit-wenig-Arbeit-Mentalität ihren ersten Dämpfer: Ich erfahre, dass Professoren von Studenten erwarten, dass sie sich wesentlich intensiver auf ihre Kurse vorbereiten, als ich es bisher vom Gymnasium kannte. Blätter ausdrucken. Sich sofort die notwendigen Bücher besorgen. Und Unmengen an »themenbezogenen Texten« lesen. Um mich daran zu gewöhnen, brauche ich wieder einige Wochen, kann ernsthafte Schwierigkeiten aber meistens durch »brüderliches Teilen« der Skripte mit Kommilitonen abwenden. In der Eingewöhnungszeit schlafe ich wenig, lese viel und habe konstant das Gefühl, irgendetwas noch nicht getan zu haben. Wenn mich jemand nach meinem Befinden fragt, lasse ich das Wort »Stress« oft in meine Antwort einfließen. Meiner schon seit dem Sommersemester studierenden besten Freundin gegenüber erwähne ich, dass ich mich aktuell ein bisschen überfordert fühle, sie kontert: »Das Studium ist eine einzige Überforderung, Baby. Gewöhn dich dran.« Ich wünsche mir diese Coolness auch.

Als ich zum ersten Mal in den Copyshop laufen muss, weil mein Drucker beschlossen hat, nur noch die Mitte der Buchstaben aufs Papier zu bringen, beziehungsweise Blätter essen zu wollen, komme ich mit vierhundertachtundsiebzig Seiten Skript wieder nach Hause. Mit großen Augen und panisch hechelnd ordne ich das Resultat meiner ersten drei Studienwochen und versuche, den Drucker wieder fitzumachen, der darauf aber keine Lust hat. Dann kurz mit dem Hund raus, anschließend im Bett zusammenrollen und hoffen, dass mir ein Lieblingsmensch Schokolade bringt. Es folgt eine Zeit des während-dem-Laufen-und-Busfahren-Lesens, des »Oh, hast du zufälligerweise das Skript … ?«-Fragens und vor allem des »Verdammt, meine Readings!!!«-Fluchens.

Ich trage meinen allerersten Uni-Plan  aus nostalgischen Gründen immer noch mit mir herum. Gerade habe ich mir meine ersten eigenen fünfhundert Seiten Druckerpapier gekauft. Ich gebe mir große Mühe, mich mit dem ungewohnt hohen Lernpensum zurechtzufinden, schaffe es dann sogar in den meisten Fällen irgendwie pünktlich in meine Kurse und nehme nebenbei auch noch selbst gekaufte und gekochte Nahrung zu mir. Jetzt werde ich mir allerdings schnell noch eine Dose Ravioli aufmachen müssen, um sie dann gemütlich im Laufschritt auf dem Weg zur Uni essen zu können und halbwegs rechtzeitig aufzutauchen …

Text: Monika Buchmeier

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