»Anatomie eines Falls«: Der letzte Rest Wahrheit
Justine Triet analysiert forensisch den Hergang eines Fenstersturzes. Sandra Hüller spielt eine renommierte Autorin, die unter Verdacht steht, ihren Mann getötet zu haben. Ein Gerichts-Drama beginnt, das vor allem Zeugnis ablegt von einer Ehe in Trümmern.
von Johannes F. Schiller
Lautstark dröhnt Musik aus der obersten Etage des Chalets in den französischen Alpen. Eine instrumentale Coverversion des 50-Cent-Songs „P.I.M.P.“ Die bekannte deutsche Autorin Sandra Voyter (Sandra Hüller) gibt gerade einer Literaturstudentin ein Interview, lässt sich aber nicht durch den Lärm beirren. Das sei nur ihr Mann Samuel (Samuel Theis), der das Gespräch aus Trotz sabotieren wolle. Gelassen und sichtlich erheitert, mit einem Glas Wein in der Hand stellt nun Sandra der jungen Frau Fragen. Sandra zeigt Interesse an ihr, sie flirtet. Die Studentin bricht wegen der Lautstärke das Interview ab. Kurz darauf geht der elfjährige, durch einen Unfall sehbeeinträchtigte Sohn Daniel mit dem Hund spazieren. Als er zurückkehrt, ist es bereits geschehen. Ein eindringlicher Schwenk auf den Boden verleiht dem eine stumme Dramatik und Unmittelbarkeit:
Samuels toter Körper liegt im kalten Schnee, eine Blutlache breitet sich über seinem Kopf aus. Darüber das offenstehende Dachfenster, aus dem er gestürzt war und angeblich noch wenige Meter vorwärts kriechen konnte, bis er zusammenbrach. Soweit Prolog und Ausgangspunkt von Justine Triets Justizthriller »Anatomie eines Falls«, der dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes gewann. Schon der Titel nimmt Bezug auf das Gerichtsdrama »Anatomie eines Mordes« (1959) von Otto Preminger. Denn es geht um genau das: die Anatomie, die Rekonstruktion von Wahrheit und die Restbestände an Wahrheit in einem scheinbaren Unfall – oder war es doch eine vorsätzliche Tat, eine Affekthandlung? Schnell ist die deutsche Ehefrau Hauptverdächtige in dem Fall, die Einzige, die zu dem Zeitpunkt zu Hause war. Zusätzlich belastet wird sie durch einen Streit mit Samuel am vorherigen Tag, der, wie es der Zufall will, als Audioaufnahme Samuels vorliegt. Eine akribische Spurensuche beginnt, die die einzelnen Figuren bis ins Detail ausleuchtet.
Forensik der kühlen Präzision
Erst rückblickend lernen wir die Personen genauer kennen, ihre Verstrickungen und Widersprüche. Sich Klarheit zu verschaffen, wird jedoch im Fortgang des medienwirksamen Prozesses immer unwahrscheinlicher. Vor allem die Form der Ermittlung erstaunt mit seiner kühlen Präzision: nicht nur der Leichnam wird untersucht, die Verteidigung rekonstruiert bestimmte Szenen und fertigt Videoaufnahmen an; so wird beispielsweise ein Dummy aus dem Fenster geworfen, um Gewissheit über die Blutspritzer und den Aufprall zu erlangen – oder es werden aufwändige 3D-Graphiken produziert. Statements sollen das Ganze untermauern, biographische Kontexte sind legitime Grundlage für verdeckte Vorurteile. Schließlich schwenkt die Diskussion auch in Richtung Fiktion versus Realität. Sandras autofiktionalen Romane sollen für den sexistischen Staatsanwalt von ihren mörderischen Gelüsten zeugen. In ihren Texten verwischen die Grenzen von Fiktivem mit realen Begebnissen.
Unterstützt wird dies durch eine »erregte« Kameraführung, die durch dynamische Suchbewegungen auf sich aufmerksam macht. Schnell ist der bedächtige Zoom-in auf die verschneite Hütte etabliert, das nervöse Zucken und Wandern des Blicks im Gerichtssaal. Die Kamera ist es, die den toten Samuel als Erste »entdeckt«. Justine Triet findet sehr filmische Ausdrucksmittel, um den Fall aus verschiedenen Blickwinkeln zu bearbeiten. Immer wieder streut sie Rückgriffe auf Schlüsselszenen vor dem fatalen Ereignis ein. Das Streitgespräch der Eheleute liegt zwar nur als Tonaufnahme und französisches Transkript vor, aber hier werden uns auch entsprechende Bilder gewährt: Samuel verachtet Sandra, unterstellt ihr diverse Affären, von denen sie zumindest eine bestätigt, wirft ihr Plagiat vor, derweil er sie sie auch für sein eigenes Versagen als Schriftsteller verantwortlich macht. Andererseits wird später eingeworfen, dass Samuel den Streit auch provoziert haben könnte, um seine Kreativität anzuregen. Seine Aufzeichnungen dienten offenbar häufig dem Zweck der Inspiration. Doch auch hier hält Triet in der Schwebe, ob es sich bei den Rückblenden um subjektiv verzerrte Erinnerungen, Imaginiertes oder filmisches Spekulieren handelt. Welche Version ist im Nachhinein also die Richtige? Diese Frage wird zunehmend hinfällig.
»Nur ein Teil der Wahrheit«
Als die erste Ohrfeige ausgeteilt wird, schneiden wir zurück in den Saal. Das Audio läuft weiter. Zerbrechendes Glas. Wer hier wen physisch angegangen ist, bleibt uns ebenfalls verwehrt. Das hinterlässt Lücken, Ungereimtheiten, die nun möglichst überzeugend mit Mutmaßungen der Anwälte angereichert und gegen alle anderen Argumente eisern verteidigt werden müssen. Die obsessive Suche nach platonischer Klarheit ist somit von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Man verlagert sich, wie Sandra äußert, auf »nur einen Teil der Wahrheit«. Erst retrospektiv fügen sich die Puzzlestücke zusammen; eine Ehe sei schließlich mehr als nur ein Streit, sei unmöglich in einer einzigen Szene zu entschlüsseln. Und sie darauf herunterzubrechen wäre heuchlerisch. Ehen sind Trümmerhaufen vager interpersoneller Empfindungen und Stimmungen, die einem objektiven Urteil zuwiderlaufen.
Im Gerichtsverfahren stehen verschiedene »Wahrheiten« nebeneinander. Gefühle, Gesinnungen und Anekdoten werden gegeneinander ausgespielt, weil sie aufgrund mangelnder Beweislast als Einzige Rückschlüsse geben können auf das, was möglicherweise geschah. Das Gericht ist keine Stätte für Wahrheitsfindung, sondern ihrer Formbarkeit. Es resultiert in der gemeinsamen Annahme und Übereinkunft einer »Wahrheit«, dem Urteil. Antworten auf die Fragen können sich nicht in »Ja« oder »Nein« auflösen, in bloßes Schwarz-Weiß-Denken. Damit unterwandert »Anatomie eines Falls« die Idee eines klassischen Whodunit-Plots mit der konkreten Täterfrage sowie deren Einlösung. Wer Täter und wer Opfer ist, entscheidet bei Triet die Perspektive – eine Variation des »Rashomon«-Effekts nach dem gleichnamigen Film von Akira Kurosawa.
Man kann Sandra als »Opfer« ansehen, der man den Tod des Mannes anlastet oder gar – in einer weit böswilligeren Lesart – Samuels eventuellen Suizid als Rache an seiner Frau. Alternativ kann Sandra Samuel in eine schwere Depression und schließlich zum Freitod getrieben haben. Es obliegt ausgerechnet dem gehandicapten Daniel, vor Gericht eine Entscheidung zu treffen. Ist seine Mutter das »Monster«, als das sie in der Presse gezeichnet wird oder nicht? Triet lädt ein, sich selbst zu verirren in der moralischen Zwickmühle. Mit dieser diffusen Offenheit entlässt »Anatomie eines Falls« aus seinem zweieinhalbstündigen Sinnieren über den trügerischen Gehalt des Wahren.
Anatomie eines Falls (Anatomie d’une chute) läuft seit dem 2. November 2023 in den deutschen Kinos. Im Vertrieb von Plaion Pictures. 151 Minuten.
Bilder: Jonathan Knepper / Unsplash