Schadet Religion der psychischen Gesundheit?

Schadet Religion der psychischen Gesundheit?

Rigide Wertvorstellungen, chronische Schuldgefühle und womöglich sogar Hass gegenüber Andersgläubigen: Für viele Menschen ist Religion ein Anachronismus, der den Glaubensanhänger:innen sowie allen anderen schadet. Dabei kann der Glaube an Übernatürliches auch einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit haben.

von Anna-Lena Schachtner

Heute ist Allerheiligen. Viele wissen vermutlich gar nicht so genau, was dieser Tag bedeutet: Menschen christlichen Glaubens besuchen die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen und gedenken somit ihren Liebsten. Es ist kein Zufall, dass Allerheiligen im Herbst ist: Die Bäume werden kahl, abends ist es schon früh dunkel und alles in der Natur bereitet sich auf den Winter vor. Dabei denken viele Menschen an ihre eigene Vergänglichkeit und den Tod.

Ein Weg, um mit diesen Urängsten umzugehen, ist die Religion – egal ob Christentum, Islam oder eine andere Glaubensrichtung -, da sie Antworten auf existenzielle Fragen bietet. In unserer säkularen Gesellschaft haben Religionen jedoch den Ruf, ihren Anhänger:innen mithilfe von Schuldgefühlen und Scham verkrustete Wertvorstellungen aufzuzwingen. Andererseits suchen viele trauernde Menschen Trost in ihrem Glauben. Es stellt sich somit die Frage: Ist Religion gut oder schlecht für die psychische Gesundheit?

Das sagt die Wissenschaft

Analysen zahlreicher Studien zum Thema Religion und Psyche ergaben: Religiosität scheint sich in den meisten Fällen positiv auf die mentale Gesundheit auszuwirken. Gläubige Menschen leiden demnach seltener an Depressionen und Süchten, sie sind zufriedener mit ihrem Leben und begehen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Suizid. Viele dieser Effekte (vor allem auf die Lebenszufriedenheit) sind jedoch sehr klein. Ein geringerer Anteil an Studien fand, dass Religion manchmal mit einem höheren Risiko für Depressionen und Schizophrenie einhergeht.

Bedeutsam für die mentale Gesundheit ist unter anderem die Häufigkeit von Besuchen in religiösen Einrichtungen. Dabei spielt sicherlich nicht nur der Glaube an Gott eine Rolle, sondern auch die soziale Komponente. Ob nun vor allem der Kontakt mit anderen Gläubigen oder die Religiosität förderlich für die Psyche ist, lässt sich schwer sagen. Jedenfalls ist vielfach belegt, dass ein soziales Netzwerk psychischen Krankheiten vorbeugen kann.

Bei Studien zum Thema Religion und Psyche gibt es ein weiteres grundsätzliches Problem: Viele davon belegen nur Korrelationen, keine ursächlichen Zusammenhänge. So könnte man das Ergebnis, dass depressive Menschen seltener in die Kirche gehen, auf zwei Weisen deuten: Entweder macht eine geringe Religiosität tatsächlich anfälliger für psychische Probleme – oder Menschen gehen wegen ihrer Depression nicht mehr in den Gottesdienst.

Zwischen Schuldgefühlen und Trost

Studienergebnisse legen also nahe, dass Religion meist gut, manchmal jedoch schlecht für die psychische Gesundheit ist. Unter welchen Bedingungen wird der Glaube an Gott entweder zur Ressource oder zur Belastung? Sicherlich hat Religion das Potential, ihre Anhänger:innen zu quälen – vor allem dann, wenn fundamentalistische Überzeugungen keine Individualität mehr zulassen und mithilfe von Schuldgefühlen Kontrolle über die Gläubigen ausgeübt wird. Peter Kaiser, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Bremen und ärztlicher Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer des Schweizer Roten Kreuzes, spricht in einem Interview mit »Deutschlandfunk Kultur« über seine Erfahrungen mit religiösen Patienten. So beschreibt er: Einige Menschen glauben, sie müssten für jeden ihrer Fehltritte sühnen, und leben mit der ständigen Angst vor der nächsten Bestrafung Gottes. Manchmal arten religiöse Überzeugungen sogar in Wahnvorstellungen aus.

Gleichzeitig betont er: Religion kann in schwierigen Lebenssituationen Kraft spenden. Menschen, die extreme Erfahrungen wie Flucht, Krieg und Folter erlebt haben, benötigen Ressourcen, um wieder ins Leben zurückzufinden, etwa die Unterstützung durch Angehörige. Sei jedoch die Familie verstorben, könne die Religion Halt bieten, erklärt der Experte. So sei etwa die Überzeugung, dass das Erlebte seinen Sinn habe, auch wenn man diesen nicht versteht, hilfreich, um besser mit belastenden Situationen umzugehen. Das gelte zum Beispiel auch für schwer kranke Menschen.

Ist Religion nun also gut oder schlecht für die psychische Gesundheit? Das hängt wohl ganz davon ab, welcher Art die Glaubensüberzeugungen sind: Fundamentalistische Strömungen, die es in jeder Religion gibt, können zu dauerhaften Schuld- und Schamgefühlen beitragen – im schlimmsten Fall zu Hass gegenüber Andersgläubigen. Dass die Angst vor einem allmächtigen, bestrafenden Gott zu Ängsten führt, erscheint logisch. Anders ist es vermutlich mit einer religiösen Einstellung, die sich nicht um starre Moralvorschriften dreht, sondern um den Glauben an ein gnädiges übernatürliches Wesen. Das Vertrauen darauf, auch schwierige Zeiten überstehen zu können, und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Liebsten nach dem eigenen Tod sind sicherlich für viele Menschen eine wichtige Kraftquelle.

Foto: Евгения Егорова | Pexels

Hier der Link zum Interview mit Peter Kaiser bei »Deutschlandfunk Kultur«

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