Kreatives aus der Schreibwerkstatt

Kreatives aus der Schreibwerkstatt
In der Schreibwerkstatt verfassen Studierende der Uni bei Prof. Jürgen Daiber Kurzgeschichten und Prosa. Wer Interesse hat, bei der Schreibwerkstatt mitzuwirken, findet auf der Website des Instituts für Germanistik mehr Informationen.

Wer schon einen Blick in die aktuelle 31. Ausgabe der Lautschrift geworfen hat, dem*der ist sicher aufgefallen, dass wir wieder die Schreibwerkstatt der Uni Regensburg mit dabei haben. Ins Heft geschafft hat es der Text von Veronika Gebertshammer »Loslassen«. Da wir im digitalen Heft leider nur Platz für einen der kreativen und sprachgewaltigen Texte hatten, wollen wir hier noch vier weiteren Autorinnen eine Plattform für ihre Werke geben.

© Tamara Bellis | Unsplash

Blutige Diamanten

von Laura Mattern

Wie lange dauert es, bis man* den Tod eines geliebten Menschen verarbeitet hat? Bis man* ihn … verstanden hat? Akzeptiert hat?

Amaya di Calmerone stand auf einem der Balkone des Anwesens ihrer Familie, ein leichter Wind fuhr durch ihr blauschwarzes Haar, bewegte ihr grünes Kleid. Er war kühl, so kühl, dass er die Wärme der Sonne stahl. Kalabrien war ein trockenes Land, heiß für Italien, doch es war Anfang November und der Spätsommer war ebenso verschwunden wie die Blüten und Blätter des Rosengartens, der sich unter ihr befand.

Ja, wie lange?

Von ihrem Platz aus konnte sie den Familienfriedhof sehen, der sich an der Südseite des Palazzos befand, ein Haufen verwitterter, alter Gräber, die von den Gärtnern des Anwesens gepflegt und regelmäßig mit neuen Blumengaben versehen wurden. Dort, etwas abgesetzt, befanden sich drei Krypten, prachtvolle, historisch anmutende Gebäude, das jüngste davon erst in diesem Jahr gebaut. Und bisher nur von einer Person belegt.

Nach Hause. Letzten Endes war sie also doch endlich wieder nach Hause gekommen.

Amaya seufzte. Lucia hatte New York geliebt. Die Partys, die Leute, das Schrille, Unkonventionelle. Das Leben. Doch noch mehr hatte ihr Herz an den schattigen Wäldern des Aspromonte-Massivs gehangen, an seinem rauen Fels, an den Bergdörfern, die sich an seine Hänge und Klippen schmiegten, alte, oft fast verfallene Orte, deren Einwohner*innen jenen sonderbaren Dialekt sprachen, der zwischen Italienisch und Griechisch lag, ein Dialekt, den man* Amayas Ansicht nach nur verstehen konnte, wenn man* dort aufgewachsen war. Wie Lucia.

Doch ebenso wie den Aspromonte und seine Bewohner*innen hatte sie Kalabrien selbst geliebt, dieses arme, von der ´Ndrangheta beherrschte Land an der Stiefelspitze Italiens, so nah an Sizilien, dass es die Insel fast berührte. Und die Hitze. Lucia hatte die Hitze geliebt. Die extremen Sommer. Die warmen, schneelosen Winter mit Temperaturen um die 20° Celsius.

Amayas Zuhause dagegen – Kalabrien war es nie gewesen. Auch die di Calmerone-Familie nicht, die Verwandtschaft ihres Vaters, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen hatte. Doch Lucia … Amaya hatte sie geliebt.
Und doch wollte sie vergessen.

Wie viel Zeit musste dafür vergehen? Wie viel Zeit, damit sie nicht mehr den toten Geruch von Kirche, von Kapelle wahrnahm, wenn sie an Lucia dachte? Wie viel Zeit, bis ihr nicht mehr als erstes jene Fotos in den Sinn kamen?

Tatortaufnahmen, hatten die Polizist*innen sie genannt, als sie damals in ihr New Yorker Anwesen geschneit waren, mitten in der Nacht alle aus dem Bett geklingelt hatten. War es halb drei gewesen? Vier? Wer wusste das schon noch? Beweisfotos. Zur Identifizierung.

Ist das Amanda Lucia di Calmerone?

Ein Schuss ins Gesicht. Zwei in den Bauch. Einer hatte sie am Unterschenkel gestreift, ein weiterer ihren Fuß durchschlagen. Eine Kugel ihre linke Hand auseinandergerissen. Und eine ihr Herz.

Amayas Hände verkrampften sich auf dem filigranen Eisengeländer des Balkons zu Fäusten.

Blut. Da war so viel Blut auf ihrem hellen Kleid gewesen. In ihren blonden Haaren. Weiße Diamant-Ohrringe, im Licht von Scheinwerfern rot funkelnd. Die Überreste eines menschlichen Körpers, in den Rinnstein geworfen wie Abfall. Abfall.

Wie lange, bis sie das nicht mehr vor sich sah?

Fünf Stiche in die Brust. Messerstiche. Kein Mord, wie die Polizei glaubte – nein. Eine Hinrichtung. Wie sie Verräter*innen zuteilwurde, Verräter*innen an der omertà, Verräter*innen an der ehrenwerten Gesellschaft.
Irgendjemand würde dafür bezahlen.


© Chloe Bolton | Unsplash

Das Band zwischen uns

von Sabrina Heuschneider

Wärme durchströmt mich, als ich mit meinem Blick ihren sanften Kurven folge und ein leises Kribbeln erfüllt meinen Bauch, während ich mit den Fingern vorsichtig die Rundung unter ihrer schlanken Taille entlangfahre. Kühl und glatt fühlt sie sich an. Ich streiche weiter über die filigran geschwungenen Malereien auf ihrer Haut. Rund um ihre Mitte tanzen schwarze schlanke Gestalten auf elfenbeinfarbenem Untergrund, oben und unten eingerahmt von antik anmutenden Mustern. Ein heller Sonnenstrahl fällt durchs Fenster und lässt sie mir funkelnd entgegenzwinkern, gerade so, als wolle sie mir sagen: »Ich bin für immer dein.«

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie mir zum ersten Mal ins Auge sprang. Es war einer der heißesten Tage meines Griechenlandurlaubs vor zehn Jahren. Trotzdem hat es mich damals auf den Markt gezogen. Lange bin ich durch die endlosen Reihen der Stände geschlängelt, bis mich eben dieses Zwinkern im hellen Sonnenlicht auf sie aufmerksam machte. Sie ist wirklich ein wunderschönes Einzelstück. Mit einem letzten liebevollen Streicheln stelle ich die elegante Vase zurück ins Regal. »Du nicht«, denke ich, »dich gebe ich nicht her.«

»Na, kommst du voran, Liebling?« Ich drehe mich um. Durch die offenstehende Tür des Wohnzimmers sehe ich, wie meine Frau langsam näher kommt. Sie betrachtet mich für einen Moment, wie ich inmitten leerer Kartons und vor dem bis zur Decke reichenden Wandregal stehe – einem viel zu vollen Wandregal. Neben dem eben zurückgestellten Prachtstück reihen sich ein Buddha, ausgefallene Blumentöpfe und allerlei hölzerne Figuren in die Einzelstückparade auf den dunklen Brettern ein – Mitbringsel von zahlreichen gemeinsamen Reisen, Erinnerungen an die schönsten Momente.

»Ich weiß, dass es dir schwerfällt. Aber mit irgendetwas musst du anfangen.« Ein Satz, den sie wie eine kaputte Schallplatte immer und immer wieder abspielt. In ihrem weißen Shirt und einer lockeren hellen Stoffhose tritt sie in mein Packchaos. »Wie wäre es mit dieser Vase hier?« Sie greift nach dem griechischen Einzelstück. »Die steht hier doch schon ewig rum.« Mein Magen zieht sich krampfend zusammen. »Nein! Auf gar keinen Fall!« Ich reiße ihr die Vase aus den Händen und presse sie an meine Brust. »Die kann ich nicht hergeben. Das ist griechische Keramik.« Mit erhobenen Händen weicht sie einen Schritt zurück. »Ist ja gut. Ich will dir doch nur helfen.« Unter zusammengezogenen Augenbrauen leuchtet mir das tiefe Blau des Ozeans entgegen. Jahrelanger Unmut und Enttäuschung spiegeln sich darin. »Bitte versuch es wenigstens.« In ihrer Stimme schwingt eine schwere Müdigkeit mit. Dann wendet sie sich zum Gehen. Ich spüre, wie das schon lange immer dünner werdende Band zwischen uns nun endgültig zu reißen beginnt. Der sich gerade noch lösende Knoten in meinem Magen zieht sich ruckartig zusammen – fester als zuvor.

Zwei schnelle Schritte, dann bin ich bei ihr. Ich schlinge meinen Arm von hinten um ihre Taille und ziehe sie an mich. Vergrabe mein Gesicht in ihrem dunklen Schokoladenhaar. Atme tief ihren Duft ein. Zuerst erstarrt, schmiegt sie sich nun langsam an mich. »Ich will wirklich nur dein Bestes«, flüstert sie. »Ich weiß.« Sanft löse ich mich von ihr. Dann beginne ich die Vase, die ich noch immer in der rechten Hand halte, in Papier zu wickeln und sorgfältig in einen der Kartons zu packen. Ich sehe auf. Der Unmut und die Enttäuschung in ihren Augen sind einem Hoffnungsschimmer gewichen. Und ich fühle mich ein kleines bisschen leichter.


© Rahadiansyah | Unsplash

Fallen

von Anna-Katharina Haimerl

Sie hing fünf Meter über dem Boden mit ausgestreckten Armen an einer Kletterwand. Nico lehnte ihren Kopf zurück, um vorsichtig nach oben über den Überhang der Prüfungsstrecke mit den bunten Klettergriffen zu spähen. Angespannt bewegte sie sich auf ihren Zehenspitzen ein paar Millimeter nach rechts, dann wieder nach links. Der nächste Griff war meilenweit weg. Und der Arm war zu kurz. Ganz sicher. Ihre Gedanken kreisten immer schneller, Runde um Runde, panisch um sich selbst. 

Hannes, der sie unten zum hundertsten Mal als ihr Kletterpartner sicherte, beobachtete, wie sie bereits seit über zehn Minuten dort oben auf diesen vier Klettergriffen herumtänzelte. Wie ein Zirkuspferd auf einem Schwebebalken. Nicht forsch und schwungvoll wie sonst, irgendwie verloren. »Was machst du denn da?«, riss er sie aus ihren Gedanken. Hannes konnte sich sein amüsiertes Grinsen einfach nicht verkneifen. Sie verzog ihr Gesicht: »Haha.« Seine Schultern zuckten verschmitzt. »Wollte nur mal nachfragen. Du weißt ja, Fallen ist auch eine Option. Ganz natürlich«, rief er. »Das ist nicht witzig«, rief sie mit leicht verzweifelter Stimme in die Wand. Als ob das so einfach wäre. Natürlich. Er hatte zu viel Psychokrams gelesen. Schwer atmend richtete sie ihren Blick nach unten. 

Sie schüttelte den Kopf. Konzentration. Anders als bei der Sicherung von oben hing das Seil etwa auf Höhe ihrer Knie. Und sie musste sich auf dem Weg nach oben selbst, Haken für Haken, den sie erklomm, sichern. Die ganze Länge und noch etwas mehr würde sie fallen, wenn sie losließ oder den Griff verfehlte. Die Stimme des prüfenden Lehrers ertönte: »Also wenn du jetzt nicht bald raufkommst, musst du es eben im nächsten Kurs probieren. Das ist ja auch nicht schlimm.« Dieser wandte sich bereits zum Gehen. Sie biss sich auf die Lippe. 

Kopf aus. Bauch an? Sie kniff die Augen zusammen. Einfach hochspringen. Plötzlich hörte sie Hannes’ leisere Stimme von unten: »Sag mal, wieso kletterst du?« Schweiß rann ihr die Stirn hinunter. Ihr Körper, so schwer. »Hä? Was soll denn jetzt die Frage?«, presste sie mit schriller Stimme hervor und sträubte sich angestrengt gegen die Schwerkraft. »Sag! Der Nervenkitzel ist es bei dir ja nicht«, analysierte er ruhig. Sie sah ihn irritiert an. Seine warmen Augen verrieten ihn, seine Ehrlichkeit. »Nö«, sie stockte kurz. »Aber beim Klettern lässt mich mein Kopf normalerweise in Ruhe und ich kann einfach machen.« Sie zog die Schultern hoch. »Und dann langsam runter abseilen, das fühlt sich so gut an.« Sie atmete aus: »Einfach mal nicht denken.« Ihr Arm streckte sich wie von selbst von der Wand weg, um die Worte zu untermalen. 

Erschrocken krallte sie sich ein. Jetzt wäre es beinahe passiert. Hannes’ Mundwinkel zuckten: »Ich dachte es wäre wegen des Braunbären auf deinem T-Shirt.« Sie blinzelte und wurde rot, doch sie lachte. Zu Hause stapelte sich die Wäsche. Das einzige saubere T-Shirt war ein uraltes aus dem Tierpark. »Die besten Kletterernden sind ja die, die sich fallen trauen.« Nico starrte stur in die Wand. »Wenn das ein psychologischer Trick sein soll … « Er unterbrach sie. »Niemals«, rief er mit zu sarkastischem Unterton. Sie grinste und nickte. »Na warte.«

Plötzlich rauschte Energie durch ihren Körper. Konzentriert sah sie nach oben. Kopf aus, die Beine angewinkelt. Bereit zum Sprung. Nach oben.


© Jonas Leupe | Unsplash

Loslassen

von Anna Müller

»Wenn ich an dich denke, muss ich lächeln.«

»Hi Leo! Ich habe dich vermisst! Warum hast du mich so lang versetzt?«

»Verzeih mir liebste Daria, ich wünschte ich könnte dir öfter schreiben, aber es ging nicht!«

»Schon in Ordnung, Leo. Wie geht es dir?«

»Wenn ich dich sehen dürfte, ginge es mir besser.« Leo seufzt. Über das Handy gebeugt sitzt er da, tiefe Falten graben sich in sein Gesicht, wie immer wenn er daran denkt, wie seine Familie die Beziehung zu Daria boykottiert. Aufgebracht reibt er sich über das Gesicht, fährt sich durch die Haare. Er muss endlich zu ihr! Mit bebenden Fingern tippt er: »Daria, sie lassen mich nicht fort. Doch mach dir keine Sorgen, ich werde alles dafür tun, damit es wie früher wird!« Doch sein Bruder Malte sagt, wenn er in sein altes Leben zurück will, muss er die Sache mit Daria beenden. Sein altes Leben. Bei dem Gedanken lacht Leo höhnisch auf – als ob er ein Leben vor Daria, ohne Daria möchte!

Er kann sich noch genau erinnern, wie sie sich kennengelernt haben und alles plötzlich Sinn gemacht hat. Daria war ihm sofort aufgefallen. In der zweiten Reihe der Einführungsveranstaltung saß sie mit einem bunten Tuch in den Haaren, aufmerksam lauschte sie der Tutorin. Er war ihr vom ersten Moment an verfallen. Wie zufällig stellte er sich bei den anschließenden Kennenlernspielen neben sie und verwickelte sie in ein Gespräch. 

Bald unzertrennlich belegten sie alle Kurse zusammen und wurden ein Paar. Wenn sie Hand in Hand durch die Stadt liefen, blickte man* ihnen nach. Ihr fielen, im Gegensatz zu Leo, die Blicke anderer Männer nie auf. Ein greller Schmerz durchzuckt ihn. Damals hatte sie nur Augen für ihn. Anders als … Der Bildschirm leuchtet erneut auf und die düsteren Gedanken verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Leo blickt selig lächelnd auf ihre Nachricht.

Im Nebenzimmer verfolgen Malte und Leos Therapeut den Chat. »Es tut mir leid, üblicherweise ist der Chatbot eine große Hilfe und erleichtert den Abschied. Hier dagegen … Leider können wir in die Nachrichten nicht eingreifen. Unsere Hände sind gebunden, also die Richtlinien, es ist ja neueste Technik. Sie verstehen sicher …?« Malte blickt genervt auf, von Anfang an war er dagegen gewesen. Als ob Leo besser über die Trennung hinwegkommen würde, wenn man* Daria durch einen Chatbot ersetzte. Er räuspert sich: »Dann schalten sie das Ding endlich ab?« Fahrig sortiert sein Gegenüber einige Unterlagen, das Papier wellt sich in den schweißnassen Händen. »Ja, aber leider, also ihr Bruder muss dann wohl leider noch eine Weile bei uns bleiben. Ohne Beweis, dass er sich von Frau Daria L. distanzieren konnte, ist das Risiko zu hoch, dass er eine erneute Gefahr darstellt.«

Malte würde am liebsten aufstehen und gehen. Mit Leo. Als Daria damals Schluss gemacht hatte, war sein kleiner Bruder zusammengebrochen. Er war nicht mehr aufgestanden und das Studium hatte er aufgegeben, kurz vor dem Abschluss. Nach einem halben Jahr schien es ihm endlich besser zu gehen. Er sprühte vor Energie und ging ganz in seinem neuen Hobby, der Fotografie, auf. Bis spätnachts war er mit der Kamera unterwegs und machte ein Riesengeheimnis aus seinem »Projekt«. Malte war erleichtert, Leo wieder froh zu sehen. Bis der Anruf von Daria kam. Sie sprach von Angst und Drohungen. Er raste nach Hause, wo ein Blick in Leos Zimmer erklärte, warum ihm der Zutritt verboten worden war. Überall Fotos von ihr: in der Stadt, mit Freund*innen, im Badezimmer durch einen schmalen Vorhangspalt.

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