Mein Lieblingsbuch | Terézia Mora – Alle Tage

Mein Lieblingsbuch | Terézia Mora – Alle Tage

Der Autor Fernando Pessoa hat einmal gesagt: »Lesen heißt durch fremde Hand träumen.« Und weil Lesen einfach schön ist, haben wir einige Lautschrift-Redakteure nach ihren Lieblingsbüchern gefragt. Denn mal ehrlich: Es gibt doch nichts Besseres, als einen kalten Dezemberabend mit einer Tasse Tee und einem guten Buch, eingekuschelt in eine warme Decke ausklingen zu lassen! Et voilà – viel Spaß beim Lesen!

Es ist die sonderbare, traurige und in manchen Momenten durchaus lächerlich anmutende Lebensgeschichte des Abel Nema, der aus Osteuropa stammt und nach dem Abitur vor seiner Jugendliebe in eine deutsche Metropole flieht, die uns Terézia Mora erzählt, eine ungarische Schriftstellerin, die seit 1990 in Berlin wohnt, erzählt. In ihrem Debütroman »Alle Tage« beansprucht sie die ganze Aufmerksamkeit des Lesers und zieht ihn dabei in den Bann des scheinbar nie ruhenden Protagonisten.

Der Übersetzer Abel Nema baumelt gerade kopfüber von einem Klettergerüst, als ihn der Leser kennenlernt. Ganz behutsam taucht man nach und nach ein in das verwirrende Leben des Protagonisten. In ein Leben vor und nach der Flucht, in sein Wesen, welches scheinbar eigenschaftslos durch die Schauplätze des Romans traumwandelt. Nachdem der Vater die Familie verlässt, seine Jugendliebe sich von ihm abwendet und schließlich der Bürgerkieg ausbricht, fällt die Welt für Abel Nema in sich zusammen und er flieht aus seiner Heimat. Mithilfe der Unterstützung vieler Menschen kann er sich in einer fremden Stadt ein neues Leben aufbauen; er spricht ein Dutzend Sprachen fließend, erhält ein Sprachstipendium und wird Übersetzer. Er erzählt seine Geschichte Mercedes, die sich entschließt, ihn zu heiraten. Doch ein Zuhause findet er nie. Er erhält Bewunderung für sein Sprachtalent, wird von einigen Leuten geliebt, und doch gelingt es ihm nie, jemanden an sich heranzulassen. Lediglich zu seinem Stiefsohn Omar baut Abel Nema eine engere Bindung auf.

Man taucht in die Geschichte völlig ein

Terézia Mora enthüllt in jedem Kapitel ein bisschen mehr vom Leben des Abel N., doch zugleich erfährt manweder wann, noch wo die Geschichte stattfindet, und nur selten die Namen auftauchender Figuren. Meist reicht es nur für vage Vermutungen, mit denen der Leser alleine gelassen wird und die die Unruhe Abel Nemas auch auf ihn übertragen. Man taucht vollständig ein in die Geschichte, sieht sie mit den Augen Nemas, kann aber die Figuren durch den ständigen Wechsel der Erzählerperspektive auch von außen betrachten. Mehr als einmal gelangt man an einen Punkt, an dem man meint, Abel Nema zu kennen. Doch jedes Mal gelingt es ihm aufs Neue, sich zu entfremden und sich jeglichem Vorstellungsvermögen zu entziehen.

Der Roman ist ein Prosa-Labyrinth mit unendlich vielen sprachlichen Bildern von großer Ausdruckskraft, die oft in überraschenden Momenten zur Geltung kommen. Eine Flut von Eindrücken stürmt auf den Leser ein, es passiert so viel Neues, Fremdes und Skurriles in gleichzeitig gewöhnlichen Situationen. Mora spielt mit der Sprache und ihrer Wirkung, und so entsteht ein Text in einer sich verlierenderen Sprache über eine sich verlierende Figur. An manchen Stellen scheinen sich die Konturen aufzulösen, das Lesen wird fast mühsam, zäh. Das sind die Stellen, an denen die sprachliche Artistik die Hektik und Zerfahrenheit der dargestellten Welt übersteigt.

Flucht, Heimatlosigkeit und die Suche nach der eigenen Identität

Flucht, Heimatlosigkeit und die Suche nach der eigenen Identität sind große gesellschaftspolitische Begriffe, die wir zur Zeit immer wieder hören und die in »Alle Tage« ihren Platz finden. So scheint der Roman seiner Zeit voraus, ist er doch bereits vor über zehn Jahren veröffentlicht worden. Terézia Mora verschenkt ihre Geschichte nicht, sie schreibt für eine gesellschaftlich immer noch aktuelle Gegenwart und orientiert sich an der literarischen Moderne. »Alle Tage« ist kein Buch, das man liest, während man in Gedanken gleichzeitig woanders ist. Es fordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers, doch die ist es wert.

(2004 im btb Verlag)

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