Keine Panik auf der Titanic
Unsere Autorin hat sie durchgestanden: die Hysterie vor der Abschlussprüfung. Von einer intensivenZeit, sauberen Wohnungen und abgekauten Fingernägeln – und wie man alles überstehen kann. Ein Erfahrungsbericht.
Es ist ja nicht so, dass ich ein Fan von Jürgen Drews wäre. Dennoch muss ich diesen Text mit ihm beginnen. »Wieder alles im Griff, auf dem sinkenden Schiff. Keine Panik auf der Titanic«, grölt der König von Mallorca in seinem zweitklassigen Schlager. Keine Panik auf der Titanic. Es ist zu meinem Credo vor der Staatsexamensprüfung geworden.
Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute
Ich gehöre zu denjenigen Leuten, die schon bei der Prüfungsanmeldung zittern und zugegebenermaßen spätestens bei der Terminbekanntgabe den ersten Nervenzusammenbruch erleiden. Sätze wie »Oh Gott, meine Termine fallen doch wirklich am beschissensten« bis hin zu »Wie soll ich das nur schaffen« sind für diese Sorte Student typisch. Genau so habe auch ich mich vor fast einem Jahr in den Staatsexamenskampf begeben – leider ohne zu Beginn einen klugen Zeitplan ausgearbeitet sowie sorgfältig und mit genügend zeitlichem Abstand Bücher bestellt, kopiert und zusammengefasst zu haben. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen – oder vielleicht doch? Ablenkung, so sagt man doch, ist die beste Medizin – nicht nur bei Liebeskummer. Ich sage euch, so sauber wie in Prüfungsphasen ist meine Wohnung sonst nie (außer vielleicht meine Familie kommt zu Besuch) und man findet endlich auch mal Zeit, die kompliziertesten Gerichte aus den neuerworbenen Klatsch- und Tratschmagazinen selbst auszuprobieren. Auch fällt einem plötzlich wieder ein, dass man schon lange nicht mehr bei den Großeltern angerufen oder mit einer alten Urlaubsbekanntschaft über frühere Erlebnisse geplaudert hat. Egal was, man findet in dieser Phase immer eine (sinnvolle) Beschäftigung.
Freizeit – was bitte ist das?
Wenn jedoch der Prüfungstermin immer näher rückt, wird der Kampf mit dem schlechten Gewissen immer schwieriger und irgendwann gibt es kein Entrinnen mehr – die Lernerei beginnt. Immer das Gleiche: Ich habe auch dieses Mal einfach viel zu spät angefangen, strukturiert zu lernen. Trotz jahrelanger Prüfungserfahrung sind meine guten Vorsätze mal wieder gescheitert. Doch auf eine lange Phase des Jammerns folgt unweigerlich die der kurzen Nächte und viel zu langen Tage. Unzählige Lernstunden, Ohropax, karierte Blöcke, Post-Its, Karteikarten, Ordner, Red Bull und Kaugummis später verwandle ich mich von einer Gelegenheitskaffeetrinkerin in einen wahren Koffeinjunkie. Und die Schokoladenindustrie verdankt ihre Milliardengeschäfte nicht nur der Oster- und Weihnachtszeit, sondern auch den vielen nervenschwachen Studierenden.
Doch nicht nur, dass der Süßigkeitenkonsum und das ewige Sitzen das ein oder andere Kilo mehr verursachen – von den Rückenschmerzen möchte ich gar nicht erst reden: Augenringe, vornehme Blässe sowie abgekaute Fingernägel gehören fortan zum neuen Spiegelbild. Sicherlich entstehen in dieser Zeit auch die ersten Fältchen. Und wenn man nicht schon Jahre in einer Beziehung ist, kommen spätestens jetzt die ersten Konflikte mit dem Partner. Großes Lob an dieser Stelle an alle Freunde und Freundinnen, Kumpels und Familienmitglieder, denen in dieser Zeit viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die tagein, tagaus Zweifel und Panik miterlebten und sich regelmäßig fachliches (Halb-)Wissen anhören mussten. Glaubt mir, Studierende, die ihr die Prüfungszeit noch vor euch habt, seid im Vorfeld sehr großzügig mit Geschenken und Komplimenten – ihr werdet die Nerven eurer Mitmenschen bald gewaltig strapazieren. Die Unterstützung hilft euch, nicht unterzugehen. Sie werden euch, das ein oder andere Mal, mehr oder weniger freiwillig durch Geburtstagsessen, WG-Partys oder mittels lebenswichtiger Telefonate retten.
Auszeiten sind, trotz der Kritik einiger fleißigerer Kommilitonen, das A und O. Und auch den alten Sparringpartner – das schlechte Gewissen – gilt es dann zu überlisten. Aber mal ehrlich, in dieser freizeitlosen Zeit gönnt man sich ja sonst nichts – außer in meinem Fall einen neuen Haarschnitt und viele, viele neue Schuhe. Aber in irgendeinem Seminar im Studium habe ich mal gelernt oder irgendwo gelesen, dass man sich belohnen soll für gute Leistungen, und glaubt mir, Studierende leisten vor und während einer Prüfung oder Abschlussarbeit viel, sehr viel. Und wenn sie schon keinen Orden bekommen, dann wenigstens ein neues Kleidungsstück, elektronisches Gadget oder Schmuck.
Doch ich habe im letzten halben Jahr nicht nur fleißig die Wirtschaft angekurbelt, sondern auch das Spazierengehen für mich entdeckt. Von morgens bis abends sitzen ist einfach nicht auszuhalten. Neben dem Auspowern und der Abwechs-lung beim Sport kann ich das Lernen während des Spazierengehens nur empfehlen. Sicherlich schaut der ein oder andere irritiert, wenn man als junger Mensch Selbstgespräche führt, aber so bekommt man wenigstens etwas Sonne und Frischluft. Denn ehrlich gesagt, die Zeit ist hart – gemütliche Sonntage mit Freunden auf der Couch, ein gutes Buch am Nachmittag: Fehlanzeige.
Ich lerne in der Küche, am Schreibtisch oder in der Bib. Nach einer gewissen Zeit fällt mir überall die Decke auf den Kopf. Egal wo oder mit wem ich lerne, egal wie viele Bücher ich ausleihe, von denen maximal die Hälfte durchgeblättert wird, ich muss mich immer selbst motivieren, weiterzumachen. Und mal ehrlich: Gehören ein Scheißtag, an dem gar nichts geht, das gemeinsame »Mensen« oder die nahezu täglichen Cafetentreffen nicht einfach auch dazu? Hilft es in der Bib nicht auch zu sehen, dass der Vordermann gern ein Nickerchen macht? Oder dass Professoren beim Lesen ihrer eigenen Literatur gähnen?
Doch die Nacht vor jeder Prüfung ist wie im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«: Tränen, Ohnmachtsgefühle, Schreikrämpfe. Die Lieblingssendung im Vorabendprogramm lasse ich sausen, weil ich eine letzte Nachtschicht einlege, um zum hundertsten Mal alles durchzugehen. Herr über schlaflose Nächte werde ich höchstens mit Baldrian – wahlweise als Tropfen oder Tabletten erhältlich. Das Zittern und die Schweißausbrüche bekomme ich mit dem Vorrat an Mamas homöopathischen Mittelchen in den Griff . Im Bett, natürlich mit den Unterlagen unter dem Kopfkissen (Oma könnte mit ihren Tipps doch Recht haben – einen Versuch ist es wert), spuken neben sämtlichen einverleibten Informationen auch mögliche Fragen und Horrorszenarien durch meinen Kopf. Nach einer viel zu kurzen Nacht ist am nächsten Morgen an Frühstücken gar nicht zu denken. Nur noch schnell einen Kaffee und los geht’s mit einer Zigarette, einem Red Bull oder einem letzten Panikanruf. Vor der Tür atme ich nochmal tief durch, mein Herz schlägt trotzdem wie beim Marathon. Die Prüfung oder die Abgabe will ich jetzt einfach nur noch hinter
mich bringen. Sicherlich gibt es auch die seltene, vorwiegend männliche Spezies, die frei dem Motto: »Scheiß dir nix, dann feid da nix« lebt. Beneidenswert.
Die Prüfung: »Ich funktioniere.«
Letztlich bleiben einem in den Minuten kurz vor der Prüfung nur noch die Stoßgebete. Spätestens jetzt werde ich vom selbstsicheren Studenten zum unwissendsten Menschen überhaupt und frage mich, warum ich das alles hier überhaupt mache. Doch dann geht die Tür auf und der Professor steht vor mir. Ich setze mein Pokerface auf und stelle überraschenderweise insgeheim fest: Auf dieses Kurzzeitgedächtnis kann ich bauen. Die Prüfungszeit vergeht wie im Flug und plötzlich fällt mir auch wieder ein, dass Prüfer auch nur Menschen sind. Die Gedanken an die oftmals vernachlässigte Körperpflege verflüchtigen sich in dieser Zeit ebenso wie die Selbstzweifel Sekunden zuvor. Ich funktioniere. Wie? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich alle Kräfte mobilisiere bis die Zeit rum ist und ich endlich aufatmen kann. Geschafft . Alles, was jetzt noch kommt, ist mir erst mal egal. Zwar bange ich bei mündlichen Prüfungen nochmal kurz um die Note und schicke wiederrum Gebete Richtung Himmel, doch das Gefühl »geschafft , vorbei, genug gelernt!« bleibt bestehen.
Bei 14 schrift lichen und mündlichen Prüfungen ist die letzte natürlich immer die schönste. Erst etwas später realisiere ich vollständig, dass die Prüfungs- und sogar Studienzeit vorbei ist. Sofort weiß ich nur, dass ich an diesem und den nächsten Tagen feiern werde und dass das Leben mich endlich wieder hat. So anstrengend und aufregend die Zeit auch war, ich habe sie hinter mich gebracht – und irgendwie gehört das alles einfach dazu. Wieder alles im Griff , auf dem sinkenden Schiff . Es ist vor allem dies, was ich euch mitgeben kann. Immer weitermachen. Ruhe bewahren. Ans Limit gehen. Und nie hysterisch werden: keine Panik auf der Titanic.
Text von Mandy Giller