»Im letzten Sommer«: Es lebe die Amoral!

»Im letzten Sommer«: Es lebe die Amoral!

Nach zehn Jahren Pause kehrt Catherine Breillat mit ihrer neuesten Provokation zurück: Sommerliches Ambiente trifft auf eine Beziehung zwischen Mutter und Stiefsohn, die nicht sein darf. Über die ungreifbare Natur des Begehrens, Gaslighting und die Negativität des Betrogenen.

von Johannes Schiller

Kundige Betrachter:innen wissen durch den Philosophen Georges Bataille, dass Schmerz, Tod und Sexualität ein untrennbares Band eint. Catherine Breillat ist seine beflissene Schülerin, die ein anspruchsvolles Kino entworfen hat, das sich nicht davor scheut, etwa die Frau als »Anatomie der Hölle« (2004, basierend auf ihrem eigenen Roman »Pornocratie«) zu sezieren. Sie ist Schriftstellerin sowie im Alter von 75 Jahren eine noch in weiten Teilen unterschätzte Stimme der weiblichen Subjektivität im Kino. Ihr neuster Film nach zehnjähriger Schaffenspause »Im letzten Sommer« dürfte auf wohlverdientes Interesse stoßen und zu Diskussionen anregen. 

Sehen so schlechte Menschen aus? Die sich ihrem eigenen Begehren willenlos geschlagen geben? Der Fall könnte für Anne, gespielt von Léa Drucker, gemacht werden. Manchmal kommt die Frage auf. Aber sogleich wird sie selbst mit Zweifeln aufgeladen: diese Leute wissen genau, was sie tun, welch gesellschaftliche Ausgrenzung und Ächtung sie in Kauf nehmen – oder handeln sie doch völlig vernunftwidrig? Für Überraschungen ist das immer gut. Denn Breillat erzählt vom Tabubruch schlechthin, der verbotenen Affäre einer älteren Frau mit ihrem 17-jährigen Stiefsohn. 

Anne ist 50, eine angesehene Anwältin für Familienrecht und mit dem etwas älteren Pierre verheiratet. Das Paar hat zwei kleine asiatische Mädchen adoptiert. Sie gehören der Oberschicht von Paris an. Zu Beginn des Sommers zieht Théo (Samuel Kirchner) zu ihnen, der rebellische Sohn Pierres aus erster Ehe. Anne ist in ihrer familiären Situation glücklich und dennoch lässt sie sich auf einen Flirt mit dem Teenager ein. Die Atmosphäre ist schwül, die Hitze dringt in alle Ecken des Films und beleuchtet sie mit einem hellen Schein des Unbeschwerten. Pierre ist auf Dienstreisen, ein perfekter Nährboden für ein Gefühlschaos – die Unwägbarkeiten des Begehrens, die den leeren Raum des großbürgerlichen Anwesens füllen und rationale Abwägungen kurzschließen…

Monster in unleugbar gutbürgerlichen Fassaden

Von Breillat braucht man allerdings keinen moralischen Stempel erwarten. Anne ist die achtbare Juristin, die ihren Verantwortungen nachkommt, die sich eines jungen weiblichen Missbrauchsopfers annimmt und das Paradebeispiel einer liebevollen Mutter. Eigentlich stimmt hier alles. Es ist nicht so, als würde sie jemals ihre Position ausnutzen wollen. Das sind im Kern »gute« Menschen. Gute Menschen, die auf ihr Umfeld reagieren müssen. Unleugbar gutbürgerliche Fassaden. Théo ist nicht einmal Annes Typ. Am Anfang berichtet sie Pierre im Bett, wie sie als Jugendliche auf einen 30-Jährigen gestanden hat. Seitdem sind Ältere ihr Beuteschema. Doch die Verlockung des Verbotenen, vielleicht ja das Geheimnis der Jugend treibt sie in die Arme Théos. 

Sie selbst zählt sich zur AIDS-Generation, die die Errungenschaften der sexuellen Revolution in die Schranken wies. Bewundernd blickt sie auf die ungezwungenen Beziehungsmodelle, denen Théo nachgeht. Sehnt sie sich insgeheim nach diesem Ausbruch aus dem Gewöhnlichen? Der Sprengung gutbürgerlicher Moralvorstellungen? Eine diffuse Sehnsucht nach etwas Konkretem, Unkompliziertem, einem fling. Nachdem Anne die Liaison für beendet erklärt, hinterlässt das bei Théo Narben. Um Zeit mit seinem Sohn nachzuholen, die er ihm früher nie widmete, verreist Pierre für einige Tage. Dort gesteht Théo dem Vater, was geschah.  

Vor der Brutalität des Begehrens nicht die Augen verschließen

Köpfe nähern sich an. Münder, die aneinanderkleben und einander verformen. Ein Kuss in Großaufnahme, der auf der Leinwand zu einem sonderbar abstrakten Tableau gerinnt. Die Sexszenen in »Im letzten Sommer« sind gleichsam formelhaft, quälend und ohne jegliches Dekor. Hier ein durchgestreckter Hals, ein heftiges Atmen, ein ekstatisch verzerrter Ausdruck. Im Interview erklärt die Regisseurin, dass ein Ölgemälde von Caravaggio als Referenz für Annes Spiel diente – »der berühmteste Orgasmus der Kunstgeschichte«, Maria Magdalena in Ekstase. Wir sehen nur abwechselnd sein oder ihr Gesicht im Liebesakt. Einem voyeuristischen Blick verwehrt sich die Kamera (Jeanne Lapoirie) konsequent. Die Intimität des Gesichts ist zugleich zersetzend und entlarvend im Augenblick der Grenzüberschreitung. Denn sie verrät viel mehr von den Beteiligten, als einem lieb ist. Die Aufnahmen dringen ins Innerste vor.

Breillat erzählt keineswegs die Geschichte einer Adoptivmutter, die sich an einem Minderjährigen vergreift. Die Monster sind nicht klar auszumachen – Gibt es sie überhaupt? Für eine einfache Antwort sind die Strukturen des Begehrens viel zu komplex angelegt. Sobald der Vertrauenskreis Familie durch den Bruch irreparabel beschädigt wird, muss Anne umso stärker an ihn appellieren, um ihre Deutungsmacht wiederzuerlangen. Es ist ein Duell der gegenseitigen Abhängigkeiten, in dem Lüge und Manipulation dominieren. Vor der Brutalität des Begehrens kann und will Breillat überdies nicht die Augen verschließen – sie bleibt eine boshaft ungeschönte Konstante, bis zum Schluss. Darauf ist Verlass bei ihr.

Im letzten Sommer (L’été dernier) läuft seit dem 11. Januar 2024 in den deutschen Kinos. Im Vertrieb von Alamode Film. 104 Minuten.

Beitragsbild: Johannes Schiller

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