Wenn sich die Wege kreuzen, weicht man(n) nicht aus?

Wenn sich die Wege kreuzen, weicht  man(n) nicht aus?

Die Feminis:muss-Kolumne ist zurück! Der erste Beitrag in diesem Semester widmet sich einem Thema, das häufig metaphorisch genutzt wird, hier aber ganz wörtlich gemeint ist: Dem Gehen. Die Geschichte eines feministischen Selbstexperiments.

Von Julia Huber

Das eigenständige Laufen lernen Kinder um den 14. Lebensmonat herum. Das zumindest zeigt eine Infografik der ZEIT von letzter Woche. Ich frage mich: Wann lernen sie das gegenderte Gehen, das Gehen, angepasst an ihr Geschlecht? Wann lernen die einen, zu gehen, und die anderen, auszuweichen? Weil die ZEIT dazu meines Wissens noch keine Infografik veröffentlicht hat und das hier eine Kolumne ist, folgt meine persönliche Erfahrung.

Ich gehe ständig. Ich gehe zum Bus, der mich zur Uni bringt. Ich gehe auf -oder, meist akkurater: unter- dem Gelände der Uni herum. Wenn die Sonne scheint, gehe ich danach zu Fuß nach Hause.
Wie ich dabei gehe, kann ich nicht sagen. Ich gehe schnell, sagen manche Freund:innen. Ich kann sehr schnell gehen, wenn ich will. Das habe ich vor Jahren perfektioniert, angetrieben von der Angst davor, einfach loszurennen, wenn ich es eilig habe, von der Angst, außer Atem zu sein, wenn ich anderen Leuten begegne. Die Angst habe ich kleiner gezüchtet; die Fähigkeit, schnell zu gehen, hat den Prozess überlebt. 

Okay, »schnell«, das wäre also eine Antwort auf die Frage, wie ich gehe. Aber was sagt mein Gehen über mein Geschlecht aus? Sieht man meinem Gang mein Geschlecht an? Mit Sicherheit. Geschlecht wird performt, wie wir wissen. Mit Sicherheit habe ich schon allein durch die Tatsache, dass ich als Frau sozialisiert worden bin, einen anderen Gang als ein Mann. Mehr Hüftschwung, kleinere Schritte? Ich weiß es nicht. Und weil ich weder genug Bewusstsein darüber habe, wie mein Gang mein Geschlecht ausdrückt, noch ein Zertifikat in Gender Studies, überlasse ich diese Analyse meinem zukünftigen Ich.

Aber es gibt etwas, was ich jetzt schon sagen kann. Wenn ich nämlich gehe, kommen mir meistens Menschen entgegen. Auf dem Weg zum Bus, auf den Unigängen, auf der Straße nach Hause. Für gewöhnlich läuft man aneinander vorbei. Aber manchmal, manchmal da geht das nicht. Manchmal ist der Fußweg zu schmal, der Flur durch eine Tür eingeschränkt, oder eine Straßenseite wird von einer Pfütze beansprucht. Was tue ich dann?

Vor einem halben Jahr hätte ich gesagt: »Das ergibt sich in dem Moment« oder »Da findet man intuitiv eine Lösung.« And then it hit me, wie man so schön sagt; dann ist es mir klar geworden: Diese Intuition, die da greift, veranlasst nur eins: Dass ich ausweiche. Ich mache den Schritt zur Seite. Ich lasse mein Gegenüber durch die Tür. Ich überschreite umständlich die Pfütze.
Hat es damit zu tun, dass ich als Frau sozialisiert worden bin? Wieder: Mit Sicherheit. Wenn kleine Jungs viel Platz beanspruchen, im wörtlichen wie metaphorischen Sinn, sind sie Racker, Draufgänger, Wildfänge. Wenn Mädchen das machen, sind die Menschen irritiert. Dann ist das schon mal eine Bemerkung wert. Dann gibt es das eine Mädchen in einer Grundschulklasse, das sich so verhält. Natürlich bewundern die Menschen sie dafür. Aber es wäre trotzdem komisch, wenn dann Annika, auf der Grundschulbank daneben, auf einmal so wäre wie Pippi. Es kommt mir sehr schlüssig vor, dass Mädchen deswegen dazu neigen, Platz zu machen.

Okay, Schritt eins, eine interessante Erkenntnis über mich selbst: Ich weiche aus und das hat wohl mit meiner Sozialisation zu tun. Geboren war mein Selbstexperiment: Als Konsequenz besagter Erkenntnis habe ich aufgehört, mit dieser absoluten Selbstverständlichkeit auszuweichen. Ich hatte nun ein Bewusstsein darüber, dass mir auch Platz zusteht. Dass der Weg, auf dem ich gehe, auch mir gehört. Ich mache natürlich immer noch gerne Leuten Platz, aber aus Respekt und Freiwilligkeit heraus, nicht mehr aus Instinkt. Das ist ein großer Unterschied. 


Dann kam Schritt zwei.
Wenn ich jetzt auf eine Tür in einem Gang oder eine verengte Wegstelle zugehe und mir jemand entgegenkommt, schaue ich der anderen Person ins Gesicht. Nicht alle Menschen schauen zurück.
Manche Menschen bleiben nicht stehen. Manche Menschen laufen einfach weiter. Die meisten dieser Menschen sind meiner Erfahrung nach Männer.

Als ich aufgehört habe, automatisch auszuweichen, hat es angefangen, dass Männer in mich hinein laufen. 

Und das gilt nicht nur für Engstellen im Weg. Erst letzte Woche bin ich rechts auf einem breiten Gehweg gelaufen. Ein Mann kam mir entgegen. Der Gehweg war breit, aber er lief ganz links, so wie ich weit rechts ging, also befanden wir uns auf derselben Spur. Ich bin nicht ausgewichen. Er ist zusammengezuckt, als er in mich reingelaufen ist. 

Übertreibe ich? (Möglicherweise der Gedanke, den Frauen grundsätzlich am allermeisten haben) Bin ich unhöflich, wenn ich keinen Platz mache, obwohl jemand offensichtlich auf mich zuläuft? Ich denke nicht. Erstens: Nicht nur er kam auf mich zu, ich kam auch auf ihn zu. Wir waren beide Subjekte. Es wird Zeit für mich, aufzuhören, mich selbst als Objekt, als Hindernis im Weg eines anderen zu sehen. Zweitens: Ich lief rechts, ich war im Recht. Drittens: Ich wäre bereit gewesen, auszuweichen. Das müssen beide sein, in so einer Situation. Aber ich wurde nicht einmal angeschaut. 

Zumindest das erfahren Kleinkinder wahrscheinlich nicht. Wenn ein Kleinkind mit den ersten Schritten auf dich zuläuft, wirst du es wahrscheinlich ansehen, ganz egal, welches Geschlecht es hat. Die ZEIT sagt, dass Kleinkinder zwischen ein und zwei Jahren auch lernen, zu trösten, zu helfen und zu teilen. Ich frage mich, ob manche von ihnen das Teilen wieder verlernen, später. Zumindest, wenn es um den Gehweg geht.

Welches Fazit ziehe ich also aus meinem Selbstexperiment? Dass es sich lohnt, noch weiter zu machen.

Beitragsbild: Alejandro Luengo / Unsplash

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