An den Grenzen der europäischen Humanität

An den Grenzen der europäischen Humanität

Zu gerne rühmt sich die Europäische Union mit »ihren« Werten. Jedoch stehen Worte und Taten der EU oft genug im Widerspruch. So auch an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, wo jeden Tag nicht nur Landesgrenzen überschritten werden.

von Anna-Lena Schulz

Es ist etwa 22 Uhr und dunkel draußen. Die kleinen Feuer um uns herum sind das einzige Licht. Wir sitzen auf einer Wiese in der Stadt Velika-Kladusa in Bosnien, nahe der kroatischen Grenze. Es ist die EU-Außengrenze. Unsere Gastgeber:innen haben uns erst zum Tee und dann zum Abendessen eingeladen. Es gibt selbstgebackenes, warmes Fladenbrot und Katschalu, ein typisch afghanisches Gericht aus Kartoffeln und Tomatensauce. Wir alle benutzen dabei das Fladenbrot als eine Art Löffel und essen vom selben Teller. Der einzige Unterschied: Einige der Hände in dem Topf gehören zu Geflüchteten, andere zu einer kleinen Gruppe von Freiwilligen. Zu letzterer gehöre auch ich. Die kleine Organisation, der wir uns angeschlossen haben, konzentriert sich insbesondere auf die Lieferung von Feuerholz und den Bau und Ausbau von Infrastruktur, wie Duschen oder Toiletten. Stets im Austausch und in enger Zusammenarbeit mit den Schutzsuchenden und anderen solidarischen Organisationen vor Ort. Um uns herum auf der großen Wiese, wo die Menschen notdürftig in Zelten und unter Plastikplanen unterkommen, bilden sich abends viele kleine Feuer, an denen gekocht und gemeinsam gegessen wird. Im Winter wird das Feuer dann zum überlebenswichtigen Schutz vor der Kälte des bosnischen Winters. Es ist ein sehr familiäres, fast schon gemütliches Bild, wenn man die Tatsache, weshalb diese Menschen hier sind, außen vor lässt.

Pushbacks – tägliche Realität an der EU-Grenze

Doch dann holt uns ebendiese Realität wieder ein. Der dreijährige Amir* fängt auf dem Schoß seines Vaters an zu weinen an. Doch der braucht nur ein einziges Wort, um seinen Sohn zum Schweigen zu bringen. »Policia!« – und plötzlich ist es still. Der kleine Junge hat auf dem »Game«, wie die Flüchtenden den Versuch des Grenzübertritts in die EU nennen, gelernt still zu sein, wenn die Polizei in der Nähe ist. Auch wenn er den Grund sicher noch nicht begreift. Denn wenn Familien wie die von Amir in den tiefen Wäldern von Kroatien von der Polizei entdeckt werden, werden sie in den meisten Fällen »gepush-backed«. Das heißt zurück – in diesem Fall nach Bosnien – gebracht. Allein diese Handlung der Polizei ist bereits rechtswidrig. Denn selbst illegal eingereiste Menschen haben ein Recht darauf, Asyl zu beantragen und dürfen nicht ohne Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit kollektiv ausgewiesen werden. Das wurde bereits 1950 in der europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt und wurde seitdem von jedem EU-Staat, darunter demnach auch Kroatien, unterzeichnet. Das Wort »Pushback« ist vielen aus dem Zusammenhang mit der Seenotrettung im Mittelmeer und den Einsätzen von beispielsweise der griechischen oder italienischen Küstenwache bekannt. Doch auch an anderen Außengrenzen wird so gehandelt – so auch in Kroatien. »Pushback« bedeutet dabei nicht einfach nur das »Zurückschieben« der Flüchtenden in das Land, in dem sie zuvor waren, wie man der wörtlichen Übersetzung entnehmen könnte. In der Realität geht es weit darüber hinaus, wie mir alle, die ich dazu befrage, bestätigen. Etliche Male erzählen mir Flüchtende, dass ihre Handys zerstört und ihr Geld bei jedem »Push-Back« von der kroatischen Polizei unrechtmäßig einbehalten wird. Teilweise wird es sogar vor ihren Augen verbrannt. Auch werden ihre Kleidung und ihre mitgenommenen Schlafsäcke und Rucksäcke verbrannt oder zerschnitten. Doch viel schlimmer als diese Diebstähle sind die unzähligen Körperverletzungen und psychischen Erniedrigungen, die ich zu sehen bekomme oder von denen mir viele berichten. Mir wird erzählt, wie Menschen von der Polizei gezwungen werden sich zu entkleiden, um sie dann der Reihe nach mit Schlagstöcken zu verprügeln. Andere werden genötigt, Polizeifahrzeuge zu putzen oder Stromzäune anzufassen. Auf manchen Oberarmen sehe ich frische Narben von ausgedrückten Zigaretten, welche Polizist:innen Berichten zufolge auf ihnen hinterlassen. Kinder müssen zusehen, wie ihren Eltern Gewalt zugefügt wird oder werden sogar selbst mit der Waffe bedroht. Während Erzählungen wie diesen zucken viele nicht einmal mit der Wimper. Ihre Gesichter sind oft emotionslos. Nicht traurig. Nicht wütend. Selbst dafür fehlt die Kraft. Andere wiederum lachen während ihrer Ausführungen sogar über das Geschehene. Es ist absurd. Aber es ist eben ihre Realität, ihr Alltag. Was sie erleben, ist Folter.

EU-Steuergelder unterstützen brutales Vorgehen an Außengrenzen 

All dies sind keine Einzelfälle, sind seit Jahren systematische Vorkommnisse, welche von Organisationen wie Border Violence Monitoring Network dokumentiert und durch Videoaufnahmen eines Rechercheteams der ARD im Juni dieses Jahres belegt werden. Auch das Europäische Anti-Folter-Komitée (CPT) bestätigt die Vorwürfe der Folter und des systematischen Missbrauchs von Geflüchteten durch kroatische Beamt:innen. Währenddessen dementierte Kroatiens Regierung auf der einen Seite noch im Sommer jegliche Teilhabe an illegalen Abschiebungen und verhindert auf der anderen die Veröffentlichung eben jenes Komitée-Berichts. Nach der klaren Identifizierung von vier an »Pushbacks« beteiligten Polizeibeamten, betont der kroatische Polizeichef Nikola Molina nun, dass diese eigenmächtig gehandelt hätten und suspendierte sie. Zumindest drei von ihnen. Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, unterstützt die kroatische Grenzpolizei finanziell und personell in ihrer Arbeit an der EU-Außengrenze. Sie wird durch den EU-Haushalt finanziert und schreibt auf ihrer Webseite: Die »Achtung und der Schutz der Grundrechte (…)« stehen »bei allen Tätigkeiten von Frontex im Mittelpunkt«. Bedienstete der Agentur und nationale Beamt:innen seien dazu verpflichtet, »mögliche Verletzungen von Grundrechten zu melden«. Demgegenüber stellt die im Januar 2021 zusammengesetzte vierzehn-köpfige Frontex-Kontrollgruppe des EU-Parlaments klare Grundrechtsverletzungen und illegale Abschiebungen seitens der Grenzschutzagentur fest und fordert daraufhin den Rücktritt des Frontex-Chefs Fabrice Legerri. Doch wie passt die eigene Auffassung Frontex´ zum Umgang mit Grundrechten mit den Aussagen aller Geflüchteten in Bosnien-Herzegowina und der gegenteiligen Beweislage zusammen?

Wenn Kinder zu »den Bösen« werden

Als wir, wie an jedem Abend, mit dem kleinen, zerbeulten Seat eine weitere Ladung Feuerholz ausliefern, besteigen ein paar Kinder unser geparktes Auto. Sie klettern auf die Sitze. Können gerade so über das Lenkrad schauen, über welches sie mit schnellen Bewegungen ihre Hände gleiten lassen. Sie erinnern mich an meine eigene Kindheit und daran, wie ich es geliebt habe »Autofahren« zu spielen. Wenn wir sie fragen, wohin sie fahren, ist die euphorische Antwort immer die gleiche: »Germany!«. Doch dann springt plötzlich ein anderes Kind von außen gegen die geschlossene Fahrerseite, reißt die Tür auf und schreit: »Stop! Policia!«. Und mir wird klar: Diese Kinder spielen nicht wie ich damals »Räuber und Gendarm«, sondern »Flüchtling und Polizist«. Für sie ist es das Gleiche. Von der Polizei werden sie verfolgt und behandelt wie Verbrecher:innen. Welche Folgen ein solches Normensystem oder eine solche Kriminalisierung des eigenen Seins für die Kinder hat, kann man sich wahrscheinlich denken. Die Werte und Normen der EU scheinen in jedem Fall in weiter Ferne.

Klare Menschenrechtsverletzungen – doch die EU schaut weiter weg

Doch wo bleiben Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, auf denen die EU wie so oft betont beruht, bei all dem? Erst im September hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der jährlichen Rede zur Lage der EU hervorgehoben, dass die europäischen Werte »durch unsere Rechtsordnung garantiert« sind. »Und zwar in jedem Mitgliedstaat unserer Union.« Doch lediglich aufgrund des steigenden Drucks von außen fordert die EU-Kommission Kroatiens´ Regierung auf, einen unabhängigen Kontrollmechanismus zur Wahrung der Menschenrechte aufzubauen. Dafür hat Kroatien bereits 2018 rund 300.000 Euro aus dem EU-Haushalt bekommen. Doch es gelangt nur ein Bruchteil davon tatsächlich an unabhängige Organisationen. Bei einem Teil des Geldes ist nach wie vor unklar, was damit überhaupt geschehen ist. Auch ist bisher noch kein Vertragsverletzungsgefahren gegen die kroatische Regierung eingeleitet worden. Dies war beispielsweise 2019 gegen Deutschland der Fall. Österreich reichte aufgrund von befürchteter Diskriminierung für ausländische Fahrzeughalter:innen, nach Untätigbleiben der EU-Kommission, Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die geplante PKW-Maut ein. Erfolgreich. Eine Klage der EU-Kommission gegen Kroatien wegen der Menschenrechtsverletzungen ist jedoch weiterhin unwahrscheinlich, da es hierfür Einstimmigkeit im Europäischen Rat braucht. Es liegt demnach in der Hand jedes einzelnen EU-Staates. Dies macht deutlich, wie klein das tatsächliche Interesse der Mitgliedstaaten an den Menschen und der Verletzung ihrer Grundrechtse in Kroatien ist. Rechtsordnung ist demnach nicht in allen Mitgliedstaaten unserer Union gegeben. Oder besser gesagt, nicht für alle Menschen in unserer Union. Hinzu kommt, dass anstelle von jeglichen Konsequenzen für Kroatien die EU-Innenkommissarin Ylva Johannson in einem Brief an das EU-Parlament im Juli dieses Jahres erneut den schellen Beitritt Kroatiens in den Schengenraum befürwortet. Kroatiens´ Bruch sowohl mit dem EU-Gesetz als auch mit dem Schengener Grenzkodex wird auf diese Weise belohnt, anstatt sanktioniert. Es ist offensichtlich, dass ein Beitritt Kroatiens wirtschaftliche Vorteile für alle Beteiligten mit sich bringen würde. Doch wenn die Aussage der Kommissionspräsidentin von der Leyen, »[u]nsere europäischen Werte stehen nicht zum Verkauf!« auch nur im Ansatz stimmt, wieso wird dann weiterhin jeden Tag Menschenrecht auf EU-Boden gebrochen?

 

An meinem letzten Abend in Bosnien werde ich nochmal als Rettungssanitäterin in eines der brüchigen, leerstehenden Häuser gerufen, die von den Menschen bewohnt werden. Khaled, Vater eines Sohnes, bringt mich zu seiner schwangeren Frau. Die sitzt in dem fensterlosen Flur auf dem Boden an die Wand gelehnt und hält sich den Bauch. Amira ist vierundzwanzig – zwei Jahre älter als ich – und im dritten Monat schwanger. Am Morgen sind sie nach zweiundzwanzig Stunden Laufen von einem weiteren »Game« zurückgekehrt. Sie blutet stark vaginal und unaufhörlich seit fünf Stunden. Sie sagt, sie habe große Schmerzen, könne nicht mehr laufen. Ich soll ihr helfen, doch alles was uns bleibt, ist die bosnischen Nachbarn:innen zu fragen, ob sie die Polizei und einen Rettungswagen rufen können. Wenn Geflüchtete anrufen, ist in der Regel nicht mit Hilfe zu rechnen. Sie helfen uns, die Polizei kommt allerdings nicht. Der Rettungswagen auch nicht. Und nach über einer Stunde Warten, entscheidet sich die junge Familie, ein Taxi zu nehmen mit dem letzten Bargeld, was sie zusammenkratzen können. An diesem Abend verliert Amira ihr ungeborenes Kind. Es hat das letzte »Game« nicht überlebt.

 

© privat

Die Autorin dieses Textes, Anna-Lena Schulz, ist 22 Jahre alt und studiert Soziologie und Politik in Potsdam. Im Sommer 2021 war sie mit der Organisation Blindspots in Bosnien und hat sich dort in der Geflüchtetenhilfe engagiert. Blindspots sucht immer wieder Menschen, die sie in ihrer Arbeit unterstützen möchten. Medizinische Vorkenntnisse sind nicht notwendig, aber bestenfalls sollte man mindestens vier Wochen Zeit mitbringen. Vor Ort arbeitet Blindspots mit vielen anderen NGOs wie No Name Kitchen, Medical Volunteers oder Rahma zusammen.

 

Beitragsbild: © Lyoz Bandie

 

*Alle Namen der im Artikel erwähnten Personen sind aus Gründen des Identitätsschutzes geändert.

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