Wohnsinn-Kolumne: Das Osteuropaerlebnis

Wohnsinn-Kolumne: Das Osteuropaerlebnis

Ich komme aus einem Land in Osteuropa. Meine Eltern sind nach Deutschland gekommen, als ich drei Jahre alt war. Hier in Deutschland fühle ich mich zuhause, aber durch die vielen Besuche in den Ferien und zu Weihnachten bin ich auch meinem Geburtsland sehr verbunden. Nun möchte ich Euch zum Osteuropaerlebnis, auf eine kurze Reise zu der Familie ins Heimatland mitnehmen. Ich nenne es das Osteuropaerlebnis, weil ich festgestellt habe – ohne alle osteuropäischen Länder und Menschen über einen Kamm scheren zu wollen –, dass es tatsächlich so etwas wie universelle Erfahrungen zu geben scheint, die viele Osteuropäer*innen teilen, wenn es ums »Nach Hause Fahren« geht. Ich bin gespannt, ob und wie viele der Leser*innen sich hiermit identifizieren können. Kommt mit!

von Aleksandra Szulc

Los geht es in einem mit deutschen Süßigkeiten und Kaffee bepackten Auto. Das klingt so, als würde man* in ein weiß Gott wie unterentwickeltes Land fahren und den armen Leuten mal was vom guten Leben mitbringen wollen. Aber es macht eigentlich gar keinen Sinn, denn Dank der Globalisierung gibt es dort die gleichen Geschäfte wie hier und der Preis ist deutlich niedriger. Aber gut, so wird es nun mal gemacht. 

Sobald die Grenze überschritten wird, herrscht erstmal Verwirrung, welche Geschwindigkeitsbegrenzungen denn jetzt eigentlich nochmal wo gelten. Auf die Autofahrer*innen hier muss man* besonders Acht geben. Zwar darf hier auf der Autobahn nur 140 gefahren fahren und bei durchgezogener Fahrbahnmarkierung nicht überholt werden, aber das heißt noch lange nicht, dass sich alle daran halten. Nicht mal in den Kurven. Die Autobahn ist mittlerweile ganz gut ausgebaut, aber sobald man* runterfährt, sollte man* sich auf Löcher in der Straße gefasst machen. In sehr ländlichen Gegenden besteht sogar die Möglichkeit, auf streunende Hunde zu treffen. 

Im Sommer stehen an den Straßen – ja, an den Landstraßen, teilweise mitten im Nirgendwo – vereinzelt kleine Stände, an denen Obst, Gemüse und selbstgemachte Sachen verkauft werden. Man* fragt sich, ob die Waren, die den ganzen Tag den Abgasen ausgesetzt sind, wirklich gegessen werden sollten, aber sie schmecken am Ende immer noch am besten. 

Nach der langen Fahrt ist man* endlich in der Stadt angekommen. Am Stadtrand scheint sich doch tatsächlich schon so etwas wie die Suburbs auszubilden, mit lauter Einfamilienhäusern, aber die stecken noch in der Anfangsphase. Dann die Stadt: einerseits alte Häuser, die wirklich unfassbar viel Charme hätten, wenn sie einmal richtig renoviert und gestrichen würden. Man* fragt sich, ob es an Geld oder an Motivation dafür mangelt. Wahrscheinlich an beidem. Andererseits die quaderförmigen Hochhäuser, gestrichen in allen Farben des Regenbogens. Ich habe immer gedacht, dass der Grund für die Farbauswahl ist, dass man* den tristen Siedlungen wenigstens einen frohen Anstrich verpassen wollte, um den Anschein von Hoffnung und Zufriedenheit zu erwecken. Vor dem Haus wartet schon der Großvater, weil er einen guten Parkplatz freigehalten hat. Man* will sein relativ neues Auto mit deutschem Kennzeichen nämlich lieber nicht an einem unbeleuchteten Ort stehen lassen. Natürlich wissen die Nachbar*innen Bescheid, dass Besuch kommt, und man* wird mit aus den Fenstern gestreckten Köpfen begrüßt.

Sobald alles Gepäck abgestellt wurde, gibt es Essen, auf das man* sich schon die ganze Fahrt gefreut hat. Generell dreht sich der ganze Aufenthalt um Essen, was es wann gibt und Opa hat schon eine Woche vorher angerufen, um zu fragen, was man* sich denn wünscht. Das Essen schmeckt unfassbar lecker, aber es wäre nichts, was ich alltäglich Essen würde, dafür ist es viel zu fleisch- und kohlenhydratlastig. Aber für die Zeit ist es genau das Richtige.

Es wird also gegessen, erzählt, ausgefragt, der Tratsch aus Familie und Nachbar*innenschaft wird ausgetauscht. Oma weiß nämlich genau, wer im Haus was wie wann und mit wem. Es herrscht ein stillschweigendes Übereinkommen, dass über politische Themen nicht gesprochen wird, denn der ausgewanderte und urbane Teil der Familie hat meistens etwas andere Ansichten, als der Teil, der geblieben ist. Wenn die Tante dann doch mal etwas politisch Unkorrektes fallen lässt, fragt man* sich, ob man* versuchen sollte, ihr zu erklären, was daran nicht in Ordnung ist, oder ob man* einfach hoffen soll, dass die nächste Generation besser werden wird. Oder wenn ein Satz mit »Du kannst über den Kommunismus sagen, was du willst, ABER…« kommt. Die wichtigen Fragen drehen sich dann darum, ob es denn zuhause genügend essen würde, ob man* nicht irgendwas brauche, und generell wird man* rund um die Uhr umsorgt. Gleichzeitig entsteht aber ein gewisses ambivalentes Gefühl, denn im selben Zuge wird man* kritisiert, warum man* denn seine Haare nicht kämme (das macht man* bei lockigen Haaren nicht, Oma), warum man* seine Schuhe nicht richtig putze und die Frage der Fragen: Was willst du eigentlich mit so einem Studium später anfangen??? Geistes- und Gesellschaftswissenschaften kommen eben nicht besonders gut an. 

Im Laufe des Aufenthalts werden dann Verwandte und Freund*innen der Familie besucht, man* sitzt im Schrebergarten, den irgendjemand besitzt, es wird natürlich viel gegessen, und es werden Dinge erledigt. Dinge von der »gotta do it in [ergänze osteuropäisches Land deiner Wahl]«-Liste, also all jene, die in Deutschland schlicht und ergreifend viel teurer sind. Da wäre vor allem Shoppen, aber auch jegliche Schönheitsdienstleistungen vom Haarschnitt bis zu den Kunstnägeln. Ganz ohne familiäre Spannungen kommt man* natürlich nicht aus, aber die Sonne scheint, man* fühlt sich zugehörig und merkt, dass man* geliebt wird, obwohl die meiste Zeit so viele Kilometer zwischen hier und Deutschland liegen. Die Straßen sind staubig, es ist warm und man* braucht sich um nichts zu sorgen. Schöne Erinnerungen.

Wenn die Zeit gekommen ist, werden die Koffer wieder gepackt. Aber anstatt, dass das Auto nun leer ist, weil die Süßigkeiten und der Kaffee ja jetzt dageblieben sind, fährt man* mit mindestens genauso vollem Auto wieder zurück. Diesmal aber mit den Einkäufen, vorgekochtem Essen in Einmachgläsern und anderem Gemüse, weil »solche Tomaten wie wir hier, die gibt’s bei euch in Deutschland nicht«.

Nächste Woche gibt es dann wieder Wohnsinn-News von Lotte!

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