»Babo«
Die Produktion »Babo«, die über zwei Jahre (Anfang 2022 bis Ende 2024) entstand, war ursprünglich als Porträt des Künstlers Haftbefehl gedacht. Doch im Endeffekt wurde der Film zur schonungslosen Dokumentation seines Untergangs. Sie zeigt uns den Menschen hinter dem Künstler, hinter dem Gangsta Rapper, hinter der Legende. Wir erfahren, warum er so ist wie er ist, wie er sein Leben lang versuchte seine Herkunft und sein Schicksal mithilfe von Drogen zu verarbeiten.
von Davida Schauer
[Triggerwarnung: Der folgende Beitrag enthält Erwähnungen von körperlicher Gewalt gegen Kinder, Suizid und die explizite Darstellung von Drogenmissbrauch.]
Es ist Haftbefehl, den wir vor uns sitzen haben. Oder ist es doch nur Aykut Anhan? Darüber können wir uns im Laufe der Dokumentation noch ein Urteil bilden. »Mir geht’s gut, Brudi. Ich war in Therapie«, sagt er direkt zu Beginn. Aykut und seine Brüder Cem und Aytac sind in der Hochhaussiedlung Mainpark aufgewachsen. Ihre Kindheit war geprägt von Gewalt, sowohl aus dem Block, als auch von der eigenen Familie aus. Ihr Vater war professioneller Zocker, unnahbar und aus seinem persönlichen Frust heraus aggressiv. Nicht mal bei einem Fußballspiel seiner Jungs war er anwesend. Als er sich in der Wohnung der Familie selbst umbringen will, erwischt der 13-jährige Aykut ihn dabei. Aykut rettet ihm vorzeitig das Leben, dafür bekommt er eine Schelle.
Bereits mit 13 fängt Aykut an zu koksen, 25 Jahre später tut er es immer noch. Er versucht sich 2023 das Leben zu nehmen. Zehn Gramm Kokain zieht er sich durch die Nase, erst durch sein rechtes, dann durch sein linkes Nasenloch. Das tut er innerhalb kürzester Zeit, so lange bis alles weg ist und er auf der Intensivstation aufwacht.
Dabei hat er eine Ehefrau, Nina und zwei Kinder Aaliyah und Noah. Nina sagt: »Ich liebe Aykut, Haftbefehl nicht.« Ich finde, ihre Sicht hätte in der Dokumentation noch mehr thematisiert werden sollen. Man sieht in Interviews zwar ihre Schilderungen, wie ihr Leben durch das ihres Ehemannes ebenfalls negativ geprägt ist, aber ich sehe sie als Heldin der Geschichte und hätte mir gewünscht, dass sie dafür noch mehr Aufmerksamkeit bekommt.
Generationentrauma
Ich hätte mir eine intensivere psychologische Einordnung der Geschichte gewünscht. Meine – unprofessionelle – Schlussfolgerung: Wenn Eltern ihre Traumata nicht aufarbeiten, tragen ihre Kinder sie weiter. Und wenn diese Kinder ihre eigenen Kindheitsverletzungen nicht heilen, werden sie Teil der Zukunft ihrer eigenen Kinder. Wer nie eine andere Lebensweise kennengelernt hat, weil niemand sie ihnen je gezeigt hat, hat kaum eine Chance, den Kreislauf zu durchbrechen. Es geht um Generationentraumata, um Kinder, die nichts dafürkönnen. Kinder, die unverschuldet das Leid ihrer Eltern übernehmen. In der Doku wird das besonders spürbar: Durch die bewussten Ausschnitte aus alten Aufnahmen seiner Kindheit. Ich sehe Haftbefehl, aber gleichzeitig sehe ich Aykut, das gebrochene Kind, das einfach nichts für all das kann. Er war doch noch so klein.
Diese Szenen berühren auf einer Ebene, die über Emotion hinausgeht. Wenn Kinder leiden, reagieren wir nicht nur mit Mitgefühl, sondern mit rohem Affekt: instinktiv, unmittelbar. Vielleicht ist genau das die eigentliche Kraft der Doku: Sie zeigt uns nicht nur den Rapper, sondern den Menschen, der einmal ein Kind war, und dessen Wunden nie ganz verheilt sind. Und plötzlich sitzt vor dem Publikum nicht mehr der Gangsta Rapper, sondern am Ende einfach nur eine verlorene, gebrochene Seele. Es ist eben »so lange witzig, bis es nicht mehr witzig ist.«
»Wie kann ich eine Legende sein, wenn ich noch am Leben bin?«
2023, bei einem Auftritt in Zürich fragt Hafti sein Publikum, oder vielleicht auch einfach nur sich selbst: »Wie kann ich eine Legende sein, wenn ich noch am Leben bin?« Was bedeutet das »lebende Rap-Legende«? Geht das überhaupt? »Legende«, sagt man doch meist über Tote. »Ich lebe noch«, schlussfolgert Hafti. Für viele mag das ein beiläufiger Spruch sein. Doch wer seine Geschichte nun kennt, von seinem Suizidversuch, von seinen Depressionen weiß, hört diesen Satz jetzt anders, es ist eine tiefe, dunkle Aussage. Es klingt wie eine Selbstbefragung, wie ein Zwischenruf aus dem Abgrund.
Wer ist der »Mann im Spiegel«?
Bereits 2013 wurde der Song »Mann im Spiegel« von Haftbefehl veröffentlicht. Die Frage, »Wen sieht Aykut, wenn er heute in den Spiegel schaut?«, ist eben auch ein zentrales Thema der Doku. Ich lese den Künstler als eine komplexe und zutiefst gespaltene Figur, die sich im Spannungsfeld zwischen der Rap-Legende, dem drogenabhängigen Patienten und dem traumatisierten Kind befindet. Die eigenen Songtexte drücken tiefe Verwirrung und Angst über die Person im Spiegel aus: »Ich guck’ dich an, doch wer ist dieser Mann verdammt / Verliere ich meinen Verstand? / Du bist doch ein Spiegel, doch wer ist dieser Mann? / Ich hab’ ihn nicht erkannt / Und so langsam krieg’ ich Angst«. Der Spiegel zeigt ihm die Konsequenzen seines Lebenswandels und die Last seiner Vergangenheit. Die Figur im Spiegel ist »alt, krank und müde«. Eben, als hätte er damals schon geahnt, was auf ihn zukommt. Das erkennt und äußert auch sein Bruder Cem im Film.
Eine weitere spezielle Szene der Doku: Aykut Anhan sitzt vor einem Bild, einem Foto, auf dem er mit seinen Kindern abgebildet ist. »Dreck«, sagt Aykut und zeigt auf sich selbst. Er fängt an Reinhard Meys »In meinem Garten« abzuspielen, singt oder vielmehr ächzt den Text mit. Für mich gehört dieser Moment zu den emotional intensivsten der Dokumentation und fungiert als starkes Symbol für den inneren Konflikt und den Abgrund, in dem sich der Künstler befindet. Die Szene verdeutlicht den radikalen Kontrast zwischen der öffentlichen Figur und dem privaten Menschen. Sie steht im krassen Gegensatz zu der kompromisslosen, harten Attitüde, die Haftbefehl in seiner Kunst pflegt.
Mehr als ein Dokumentarfilm
Ich schaue die Doku zu Ende. Mitleid mischt sich mit Abscheu, Mitgefühl mit Beklemmung. Was einst als Hommage an den Künstler begann, ist nun eher eine Mahnung, fast ein Hilferuf. Es ist nicht mehr »nur« das Porträt eines Rappers, sondern ein filmisches Stück der Drogenintervention. Es könnte das neue Pendant zu »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« werden, denke ich mir. Ich bin betroffen. Weil ich weiß, dass viele denken: Selbst schuld. Vielleicht habe ich das auch schon irgendwann gedacht. Doch in diesem Moment erscheint mir das unendlich unfair.
»Babo« – kurdisch für »Vater«
»Babo« ist meiner Meinung nach nicht nur ein banaler Filmtitel, sondern ein zentrales Symbol. Es geht um die Vergangenheit – um Haftis eigenen Vater. Um die Gegenwart – Hafti selbst als Vater. Und um die Zukunft – darum, wie er jetzt mit dieser Verantwortung umgeht. Der Kreis schließt sich: Der Sohn, der einst verletzt wurde, steht nun selbst an der Stelle, an der er entscheiden kann, ob der Kreislauf weitergeht oder endlich endet.
Die Doku thematisiert, dass er die Sterblichkeit annehmen solle, die er nun als Privatperson erreicht habe. Der Wunsch vieler Zuschauenden ist es, dass dieser Film für Aykut Anhan ein Anlass für einen Schlusspunkt seiner Karriere wird, ein sauberes Ende. Er solle sich nicht mehr beweisen müssen, außer dass er auch anders kann, und sich auf seine Familie konzentrieren.
Beim Schreiben dieses Textes fiel es mir schwer zu entscheiden, wann ich von Haftbefehl und wann von Aykut sprechen soll. Vielleicht, weil beides untrennbar miteinander verwoben ist. Der Künstler und der Mensch, die Maske und das Gesicht dahinter. Doch die eigentliche Entscheidung liegt bei uns: Sehen wir in ihm den Junkie – oder den Musiker?
Titelbild © Jonas Bien
