Ein Meisterwerk zwischen Intimität, Verstörung und poetischer Bildsprache
Die Berliner Regisseurin Mascha Schilinski gibt in »In die Sonne schauen« zweieinhalb Stunden lang Einblicke in das, was unausgesprochen bleibt.
von Anne Nothtroff
Im Zentrum von »In die Sonne schauen« stehen mehrere Familien, in unterschiedlichen Zeitepochen. Alle wohnen sie in der Altmark, einer abgelegenen Region im nördlichen Sachsen-Anhalt. Dort wächst auch Alma (Hanna Hekt) während des Ersten Weltkriegs auf. Aus den Augen eines Kindes beobachtet sie den vermeintlichen »Arbeitsunfall« ihres Bruders Fritz (Martin Rother): Ihm wird ein Bein amputiert, weshalb er nicht an die Front muss. Viele Geschehnisse bleiben für Alma rätselhaft und doch scheint sie sich an Dinge zu erinnern, die sie eigentlich nicht wissen kann.
Eine andere Geschichte erzählt von Angelika (Lena Urzendowsky), ein Teenager in den 1980er-Jahren in der DDR. Während ihr Onkel ihr das Schwimmen beibringt, spürt sie seine begehrlichen Blicke. Auch ihr Cousin zeigt ähnliches Verhalten. Angelika erlebt Missbrauch und sexuelles Erwachen zugleich. Daneben treten weiter Protagonist:innen auf, deren Leben verwoben sind. Ungesagte Konflikte, körperliche Symptome und unausgesprochene Sehnsüchte verdichten sich zu einer beklemmenden Atmosphäre. Die Regisseurin zeigt diese Brüche nicht in klaren Handlungsbögen, sondern in Momentaufnahmen und fragmentarischen Szenen, die sich allmählich zu einem vielschichtigen Bild verweben.
Zwischen inneren Bränden, trostloser Religiosität und einer unheilvollen Vorahnung
Das unheilvolle Surren von Fliegen zieht sich leitmotivisch durch den Film. In assoziativ wirkenden Bildern verbindet es sich mit dem Knistern von Lagerfeuer, das immer wieder zu hören ist. Ständig entsteht der Eindruck, dass ein Brand bevorsteht. Tatsächlich aber entzündet sich kein Feuer, sondern innere Brände: familiäre Konflikte und menschliche Dramen, verborgen hinter verschlossenen Türen. Wie das Geräusch, das durch ständige Wiederholung an Bedrohlichkeit gewinnt, so durchzieht auch die Religion das Alltagsleben der Figuren. Alma ist sich sicher: Wenn man etwas nur oft genug wiederholt, verliert es an Bedeutung. Und genauso verhält es sich mit den täglichen Gebeten bei den Familienessen: Trotz der Frömmigkeit der Figuren, es wird gebetet, geflüstert, gefleht. Am Ende bleibt die Religion letztlich machtlos. Sie bietet weder Trost noch Orientierung, sondern wirkt wie ein weiteres Ritual, das die Leere füllt. So wie die Figuren im Alltag kaum zueinanderfinden, verhallen auch ihre Gebete im Raum, ohne dass Erlösung oder Antworten folgen. Die Ohnmacht der Religion verstärkt damit die Beklemmung des Films und macht sichtbar, dass selbst in der Hoffnung auf das Göttliche keine Rettung liegt.
Besonders eindrücklich ist die Sprachlosigkeit der Figuren. Die Kommunikationslosigkeit zwischen den Generationen wirkt erschreckend authentisch. Bei einem der Familienessen fällt ein Satz, der sich als Schlüssel zum ganzen Film lesen lässt: »Wenn es still ist, konnte es jeder hören, aber jeder tat so, als hätte er es nicht gehört.« Diese Beobachtung beschreibt nicht nur die Szene, sondern auch die Grundthematik: das Schweigen, das Verdrängen, das beharrliche Wegsehen.
Überzeugend inszeniert und bereit fürs Oscarrennen
Visuell hinterlässt der Film einen ebenso nachhaltigen Eindruck. Grobkörnige, schemenhafte Bilder, intensives Spiel mit Licht und Spiegelungen prägen die Atmosphäre. Oft blickt man mit der Kamera durch Schlüssellöcher in Szenen, die man nicht sehen sollte und vielleicht auch gar nicht sehen wollte. Begleitet wird dies von einem Sounddesign, das nie zur Ruhe kommt: summende Fliegen, knisterndes Feuer, Stimmen, die verhallen. Wenn die Figuren dann unvermittelt direkt in die Kamera schauen, wirkt es wie ein stummer Hilferuf an das Publikum.
Die Erzählweise ist vielschichtig, nicht linear. Doch Schilinski lässt ihre Zuschauer:innen nicht ratlos zurück. Auch wenn nicht alle Teile zu einem vollständigen Puzzle zusammengesetzt werden, bleibt das Gefühl, dass die Figuren untrennbar miteinander verbunden sind. Der Film erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und gerade darin liegt seine Stärke.
Die anfängliche Sorge, dass sich die Geschichte in ein esoterisch aufgeladenes Seelendrama verliert, erfüllt sich nicht. Stattdessen entfaltet sich über 149 Minuten eine intensive Seelenschau, die tief in menschliche Abgründe und Bedürfnisse blickt. Einzig das offizielle Filmplakat irritiert ein wenig: Es sieht sehr nach einem klassischen Horrorfilm aus – etwas das der Film von Mascha Schilinski nicht erfüllt. Auch wenn die Handlung Horror beinhaltet, ist die Inszenierung kein klassischer Genre-Film. Statt auf Schockeffekte wird auf eine leise, eindringliche Bildsprache, die sich nachhaltig ins Gedächtnis einprägt, gesetzt. Zurück bleiben Figuren, die man nicht mehr vergisst.
»In die Sonne schauen« ist ein Film, der nachwirkt: eindringlich, verstörend und meisterhaft inszeniert. Beim Filmfestival in Cannes erhielt der Film den Preis der Jury und geht nun in der Kategorie Bester internationaler Film für Deutschland ins Oscarrennen.
Titelbild © Teekannen Küche Geschirr – Pixabay
Kinostart in Deutschland: 28.08.2025
