Zwischen Verantwortung und Ohnmacht: Ein Vortrag über Deutschlands Rolle im Nahostkonflikt
Der Krieg in Gaza und die humanitäre Katastrophe vor Ort stellen Deutschland vor ein außenpolitisches Dilemma, das auf ein tiefes Spannungsverhältnis zurückzuführen ist: einerseits die historische Verantwortung gegenüber Israel, andererseits der Anspruch, universelle Menschenrechte und Völkerrecht zu verteidigen. In einem Vortrag der Friedrich-Ebert-Stiftung aus der Vortragsreihe »FES weltweit« diskutierten Maria Dellasega, Leiterin des FES-Büros für Palästina, und Peter Lintl, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) über Deutschlands Positionierung.
Von Sophie Stigler
Zerbrochene Friedenshoffnungen und eine gespaltene Gesellschaft
Maria Dellasega zeichnete zunächst ein düsteres Bild der Situation: Der Friedensprozess der 1990er Jahre, der mit den Oslo-Verträgen große Hoffnungen weckte, ist seit Jahrzehnten blockiert. Statt einer Perspektive für zwei Staaten haben sich Gewaltzyklen, Besatzung und politische Spaltung verfestigt.
Heute lebt die palästinensische Bevölkerung zwischen militärischer Gewalt, wirtschaftlicher Not und permanenter Unsicherheit. Dellasega verwies auf die massive Expansion israelischer Siedlungen – über 700.000 Siedler leben mittlerweile im Westjordanland und Ost-Jerusalem. Diese Entwicklung schafft, so Dellasega, »geografische Fakten«, die eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich machen.
Seit 2006 ist Palästina territorial und politisch geteilt: In Gaza regiert die Hamas, im Westjordanland die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Wahlen blieben aus, die Wirtschaft ist weitgehend zerstört. Die aktuellen israelischen Militäroperationen gegen Gaza, die offiziell der Terrorbekämpfung dienen sollen, gehen mit Zerstörung ziviler Infrastruktur, Vertreibungen und massiven Menschenrechtsverletzungen einher. Über 90 Prozent der Infrastruktur Gazas seien zerstört. Humanitäre Hilfe sei reduziert auf minimale Lebensmittelrationen – »ein paar Nudeln«, so Dellasega – und es mangele an Medikamenten. Diese Perspektivlosigkeit und der ständige ökonomische und militärische Druck führten zu wachsender Radikalisierung.
Israels Innenpolitik: Extremer Kurs und gesellschaftliche Traumata
Peter Lintl machte deutlich, dass man zwischen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft in Israel differenzieren müsse. Die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu sei die extremste in der Geschichte Israels. Getragen von einer Koalition, die Netanjahu trotz Korruptionsanklagen stützt, verfolge sie eine Linie, die auf dauerhafte militärische Kontrolle und eine Ausweitung der Siedlungen abzielt. Gleichzeitig sei die israelische Gesellschaft tief traumatisiert – ein Zustand, der jede Lösung erschwert.
Deutsche Außenpolitik in der Sackgasse
Deutschland, so Lintl, befinde sich in einer politischen Paralyse. Die Bundesregierung berufe sich einerseits auf die »Staatsräson«, die Sicherheit Israels zu garantieren, andererseits auf das Selbstverständnis als Verteidigerin des Völkerrechts. Artikel. 25 des Grundgesetzes verpflichtet Deutschland, internationale Normen zu achten.
Doch wie kann eine Politik aussehen, die sowohl der besonderen Verantwortung gegenüber Israel als auch den Rechten der Palästinenser gerecht wird? Bislang fand Deutschland keine überzeugende Antwort. Diese Unentschlossenheit habe laut Lintl dazu geführt, dass Berlin im Nahostkonflikt kaum konstruktiven Einfluss ausübt, sondern überwiegend kommentiert.
Auch in der deutschen Öffentlichkeit fehle eine offene Debatte über die Grundsatzfrage, wie weit Waffenlieferungen und politische Unterstützung reichen dürfen, wenn gleichzeitig Menschenrechte verletzt und Völkerrechtsbrüche begangen werden. Veranstaltungen mit kritischen palästinensischen Stimmen würden häufig abgesagt oder diffamiert, was die notwendige Auseinandersetzung zusätzlich erschwere.
Publikumsfragen: Waffenlieferungen, Haftbefehle und Verantwortung
In der anschließenden Diskussion wurden Dellasega und Lintl als Expertin und Experte mit Fragen aus dem Publikum konfrontiert:Solle Deutschland weiterhin Waffen exportieren und wie glaubwürdige Außenpolitik konkret aussehen könnte. Einigkeit herrschte darüber, dass Völkerrechtsverletzungen – unabhängig vom Akteur – benannt und geahndet werden müssten. Eine produktive Haltung erfordere Transparenz und die Bereitschaft, unbequeme Realitäten anzuerkennen, ohne dabei historische Verantwortung gegen universelle Prinzipien auszuspielen.
Erschwerend kommt hinzu, dass extreme Positionen in Israel teils gesellschaftsfähig geworden sind, so Lintl. Hohe Zustimmungsraten zu Zwangsumsiedlungen der palästinensischen Bevölkerung zeigen, wie sehr Gewalt den politischen Diskurs radikalisiert. Dennoch sei ein Regierungswechsel mittelfristig möglich, auch wenn die politische Landschaft wohl weiter rechts dominiert bleiben werde.
Zuletzt wurde diskutiert, warum Deutschland den internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu ablehnt. Formal bleibt die Bundesrepublik zur Kooperation verpflichtet – doch der politische Wille fehlt bislang, Konsequenzen zu ziehen. Dies stehe exemplarisch für das zentrale Problem: die Kluft zwischen dem Anspruch, universelle Werte zu verteidigen, und dem tatsächlichen Handeln.
Neben Deutschland spielen auch arabische Staaten eine ambivalente Rolle. Zwar gab es bereits vor über zwanzig Jahren Initiativen zur Anerkennung eines palästinensischen Staates, doch ein koordiniertes Vorgehen, um Verhandlungen zu ermöglichen und Druck auf Israel auszuüben, blieb weitgehend aus. Einige Länder – etwa Ägypten – bieten immerhin Pläne zum Wiederaufbau Gazas an. Ohne internationalen Druck und glaubhafte Exit-Strategien für beide Seiten sei jedoch keine Lösung in Sicht.
Fazit: ein ungelöstes Dilemma
Insgesamt machte der Vortrag deutlich: Der Nahostkonflikt ist nicht nur ein regionales Problem, sondern ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik. Solange Deutschland keine klare Haltung zu Völkerrechtsbrüchen entwickelt und weiter in einem vermeintlichen Dilemma zwischen Staatsräson und Menschenrechten verharrt, wird es weder politisch gestalten noch zur Deeskalation beitragen können. Umso dringlicher ist es, dass Politik und Gesellschaft die Diskussion offen führen – ohne Tabus und mit dem Bewusstsein, dass echte Friedensperspektiven nur auf der Basis von Menschenrechten, internationalem Recht und Dialog entstehen können.
Titelbild: Kollage © Pauline Kral
Chefredakteurin, Kolumnenleitung »Krea:tief« und Studentin der Politikwissenschaft, Vergl. Kulturwissenschaft und Kollektivwissenschaft
