Diagnose: Weltschmerz

Diagnose: Weltschmerz
Zwischen Nachrichten über Kriege, schwächelnden Demokratien und dem sich verschärfenden Klimawandel fühlt man sich schnell machtlos und verloren. Wie beeinflusst dieses Gefühl die Gesundheit und welche Strategien helfen, damit umzugehen?

Von Louis Müller

Raketen im Nahen Osten, brennende Wälder, Angst vor einem Krieg in Europa und Pushbacks im Mittelmeer. Jeden Tag prasseln unzählige solcher Meldungen auf uns ein, zeichnen eine dunkle Zukunft und hinterlassen uns mit einem Gefühl der Verzweiflung. Einem Gefühl von Schmerz – von Weltschmerz. Einerseits ist es zwar bewiesen, dass die Menschen schon immer mit einem düsteren Blick in die Zukunft blickten, andererseits scheinen die Krisen der heutigen Zeit immer größer und undurchsichtiger zu werden.

Viele Menschen engagieren sich tagtäglich, um im Kleinen positive Veränderungen zu bewirken – doch trotz dieses Einsatzes überwiegt häufig ein kollektives Gefühl von Machtlosigkeit und Angst. Welche Auswirkungen hat die ständige Flut negativer Ereignisse – in nah und fern – auf unser Wohlbefinden? Und ist es möglich, sich langfristig vor dem daraus resultierenden Unwohlsein zu schützen?

Gar nicht mal so neu

Um die Auswirkungen des Weltschmerzes zu verstehen, sollte man sich zunächst mit dem Wort selbst beschäftigen. Dabei überrascht, dass der Begriff nicht etwa aus der heutigen Zeit stammt. Tatsächlich entstand er im Zeitalter der Romantik und wurde vom deutschen Schriftsteller Jean Paul mit seinem Roman Selina geprägt. Damals beschrieb er die Traurigkeit über eine wahrgenommene Kluft zwischen der Welt wie sie sein könnte und der Welt, wie sie ist. Heute, rund 200 Jahre später, hat sich die Bedeutung des Begriffs stark gewandelt und beschreibt nun eher das starke Gefühl der Ohnmacht und der Niedergeschlagenheit aufgrund von Leid und Elend in der Welt. Dabei ist der Ursprung des Gefühls auch keine einzelne, sondern die Summe aller globalen Krisen und deren scheinbare Unlösbarkeit, was es noch weniger greifbar macht.

Die Art und Weise wie wir Krisen wahrnehmen, hat sich seit der digitalen Revolution und den Nachrichtenmeldungen in Echtzeit stark gewandelt. Während sich die Menschen vor einigen Jahren noch auf ihre Tageszeitung verlassen mussten, bekommen wir heute Meldungen über Ereignisse auf der anderen Seite der Erde im Sekundentakt. Das Problem: negative Nachrichten werden mehr geklickt als positive oder neutrale. Dieses Phänomen führt dazu, dass Medien viel häufiger und detaillierter über Katastrophen und Krisen berichten als über ihre Lösungen oder erfreuliche Durchbrüche. Folglich entstehen sehr verzerrte Wahrnehmungen darüber, ob Entwicklungen auf der Welt anteilig eher positiv oder negativ sind.

Eine toxische Beziehung mit der Welt

Dennoch gibt es unbestreitbar beispiellose und existentielle Krisen auf der Welt, die die Menschheit und unsere Gesundheit stark gefährden. Der Klimawandel, eine internationale Aufrüstung und die potenzielle Zunahme globaler Pandemien führen bei vielen verständlicherweise zu Angst und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Die ständige Sorge um das eigene Leben, das von anderen Menschen oder die Erhaltung unseres Planeten kann dabei in einem Zustand von chronischem Stress resultieren. Für das einige bedeutet dieser Zustand oft mehr als nur ein diffuses Unwohlsein. Viele Menschen erleben eine permanente innere Anspannung, die sich in typischen Stresssymptomen äußert: Schlafstörungen, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten oder ein Gefühl von Überforderung. Hinzu kommt häufig eine emotionale Taubheit – eine Art Schutzmechanismus des Gehirns, um sich von der andauernden Reizüberflutung und Ohnmacht gegenüber den Krisen der Welt abzugrenzen. Dieses »Abschalten« kann jedoch in Apathie oder sozialem Rückzug münden.

Die psychische Belastung kann sich bei anhaltender Dauer zu ernsthaften Erkrankungen entwickeln: Depressionen, Angststörungen, Panikattacken oder Burnout sind typische Folgen. Besonders betroffen sind dabei sensible und empathische Menschen, die einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn oder ein starkes Verantwortungsgefühl empfinden. Für sie kann das Bewusstsein um globale Ungerechtigkeit oder Umweltzerstörung emotional kaum erträglich sein.

Auch der Körper bleibt von dieser Dauerbelastung nicht unberührt. Chronischer Stress schwächt nachweislich das Immunsystem und kann zu physischen Beschwerden führen – etwa Kopfschmerzen, Magenproblemen, Muskelverspannungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die permanente Alarmbereitschaft des Körpers, auch »Dauerstressmodus« genannt, bringt das natürliche Gleichgewicht aus der Balance. Ruhephasen werden seltener, Erholungszeiten verkürzen sich. Ein ständiges Ausgesetzsein gegenüber Katastrophenmeldungen kann sich somit in realen psychischen und physischen Beschwerden manifestieren. Weltschmerz ist damit längst nicht nur eine literarische Metapher, sondern ein problematisches Phänomen unserer Zeit.

Der Ohnmacht entgegnen

Eine medizinische oder psychologische Behandlung von Weltschmerz wird bisher nicht angeboten. Vielmehr sollte es darum gehen, mit achtsamen Medienkonsum die Auswirkungen des Weltgeschehens zwar zu verfolgen und durch Engagement aktiv mitzugestalten, dies aber nicht auf Kosten der eigenen Gesundheit zu tun. Einerseits ist es wichtig, sich der negativen Verzerrung in der Berichterstattung bewusst zu machen und aktiv auch positive News zu verfolgen. Andererseits bedeutet Selbstschutz auch, bewusst Grenzen zu setzen: Es kann hilfreich sein, bestimmte Nachrichtenzeiten festzulegen, Social-Media Pausen einzubauen oder gezielt nur vertrauenswürdige, konstruktive Informationsquellen zu nutzen. Auch der Austausch mit anderen Menschen, das Teilen der eigenen Sorgen, kann emotional entlasten und neue Perspektiven eröffnen.

Ebenso entscheidend ist der Fokus auf das eigene Handlungspotenzial. Wer sich ohnmächtig fühlt, profitiert oft davon, kleine, konkrete Schritte zu gehen – sei es durch ehrenamtliches Engagement, umweltbewusstes Verhalten im Alltag oder durch solidarisches Miteinander im direkten Umfeld. Solche Handlungen erzeugen nicht nur das Gefühl von Selbstwirksamkeit, sondern wirken auch emotional stabilisierend. Schließlich ist Selbstfürsorge keine Nebensache, sondern Voraussetzung für langfristiges Engagement. Auszeiten, Naturerfahrungen, Bewegung, kreative Tätigkeiten oder bewusstes Nichtstun helfen dabei, das emotionale Gleichgewicht zu bewahren. Es geht nicht darum, sich von der Welt abzuwenden, sondern darum, in ihr bestehen zu können, ohne an ihr zu zerbrechen.


Beitragsbild: ©Louis Müller

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert