Sehnsüchte des Sommers

Sehnsüchte des Sommers
Du spürst Heimweh nach einem Ort, an dem du nie gewesen bist. Die Suche nach dem losen Ende, Zukunft ungewiss.

von Ida Müermann

Ich liebte es, im Zug zu sitzen. Die Reise begann, sobald draußen vor dem Fenster die Landschaften vorbeizogen und die Farben wechseln. Wenn zum ersten Mal auf der Fahrt das Meer vor dem Fenster aufblitzte, war das Ende der Reise nah. Eine feine Linie am Horizont, wo Wasser und Luft aufeinandertrafen. Ungezähmte, endlose Weite. Wie ein Signal, dass das Ziel bald erreicht war. Gegen Ende der Zugfahrt wurde ich ungeduldig und konnte die Buchstaben meiner Lektüre kaum noch aufnehmen.

Warten.

Buchstaben ziehen vorbei,

Vor dem Fenster die Welt.

Unter mir

Wackelt der Zug die Gleise entlang

Über mir

Scheint die Sonne durch den Staub.

Eine Seite weiter – 

Mal sehen, wann ich ankomme.

Endlose Sommertage zwischen dem kleinen Dorf und dem Strand. Die Wahl zwischen Radfahren, lesen und im kühlen Meer schwimmen. Sogar das Regenwetter mochte ich. Gemütlichkeit war für mich der Zustand der Regentage. Wenn es stürmte, und man durchnässt in das warme Haus trat, um sich mit einer Tasse Tee auf das zu Sofa kuscheln – das war Gemütlichkeit. Ich konnte dem Geräusch der Tropfen auf dem Dach tagelang lauschen.

Mit offenen Augen träumen.

Die Gedanken

Spazieren,

Schweifen,

Streunen.

An den sonnigen Tagen paddelte ich mit einem alten Surfboard durch das Meerwasser. Wellen gab es keine. Weil das Wasser so flach war, ließ ich mich treiben, bis ich auf eine Sandbank stieß. Weit entfernt vom Ufer reichte mir das kühle Nass auf der sandigen Erhebung nur bis zu den Knöcheln. Dieser Moment war surreal, mitten im Meer stehend, einzig umgeben von tiefem Blau. Andere Menschen waren zu winzigen Punkten am Strand verblasst. Es gab keine Geräusche außer dem Rauschen der Wellen und ab und an den Ruf einer Möwe. Der Wind fuhr zärtlich durch meine Haare. Ich spürte die Sonnenstrahlen auf der Haut kitzeln und schmeckte das Salz auf den Lippen. Der Moment war einfach unbeschreiblich friedlich. Ich hätte gerne die Zeit angehalten.

Endlose Sommertage, zu einem Teppich aus blauen Erinnerungen verwebt, verankert zwischen meinen Gedanken. Sobald ich diesen Ort verlassen muss, werden seine Träume mich in unruhigen Momenten heimsuchen und verlocken. Meine Rastlosigkeit wird erst ein Ende finden, wenn ich nach endlosen Tagen erneut den Zug betrete.

Du spürst Heimweh nach einem Ort

An dem du nie gewesen bist.

Die Suche nach dem losen Ende,

Zukunft ungewiss.


Titelbild: © Ida Müermann

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Kolumnenleitung »Wort der Woche« | Leitung Fototeam | Studentin der Deutschen Philologie

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