Alle wollen Gerechtigkeit

Alle wollen Gerechtigkeit
Die Theatergruppe ARTIFACT zeigt mit ihrer Inszenierung von »Der Besuch der alten Dame «, dass Gerechtigkeit nicht immer so einfach ist.

von Milena Brey und Anne Nothtroff

Was genau ist schon gerecht? Die reiche Claire macht Güllen, dem verarmten Dorf, dieses Angebot: Eine Milliarde Dollar, wenn jemand ihren Jugendfreund Ill tötet. Das Dorf ist in Aufruhr, das Angebot wird abgelehnt – doch Claire wartet. Immer mehr drückt die Armut den Dorfbewohnern die Luft weg. Bald geht es um mehr als um das Geld. Alfred Ills Fehler aus der Vergangenheit liegen schwer auf ihm. Nicht nur das Dorf entscheidet am Ende über Alfreds Schicksal. Bei dem Entscheid muss sich der ganze Theatersaal erheben. Auf einmal liegt ein Schicksal in den Händen der Zuschauenden.

Nachdem die Theatergruppe ARTIFACT letztes Jahr erfolgreich Hebbels‘ »Die Nibelungen« aufführte, zeigt sie nun Dürrenmatts »Besuch der alten Dame«. Premierentermin ist der 5. Juni. Die Regie führt Sofie Bachhofer und koordinierte damit eine Gruppe von über 30 ehrenamtlichen Schauspieler:innen, Choreo-Mitglieder:innen und Techniker:innen. Verbunden mit dem sehr knappen Produktionszeitraum von gerade einmal sechs Monaten, eine herausfordernde Aufgabe, die sie gut meisterte.

»Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell«

Nach 25 Jahren kommt die reiche Claire Zachassian (Orgesa Bllaca) wieder zurück in ihre Heimatstadt Güllen, neben einem schwarzen Panther hat sie auch einen Sarg dabei. Das verarmte Dorf ist ganz aufgeregt, denn Claires Reichtum ist die Chance aus der Armut zu kommen. So wird sie mit Chor und Rede empfangen. Ihr Jugendfreund Alfred Ill (Sevastian Shakin) soll ihr schmeicheln und so sitzen die beiden bald an altbekannten Orten und erinnern sich an ihre vergangene Liebe. Doch diese süße Nostalgie hält nicht lange: Schon bald macht Claire Güllen ein grausames Angebot: Güllen bekommt 500 Millionen Dollar und weitere 500 Millionen werden auf alle Familien Güllens aufgeteilt, wenn jemand Alfred Ill tötet. Das Dorf ist geschockt und lehnt das Angebot ab. Lieber bleiben sie arm als blutbefleckt. Doch schon bald gelangen Alfreds Fehler der Vergangenheit ans Licht. Claire war damals schwanger von Alfred, der dies jedoch leugnet. Mit einem vaterlosen Kind als Hure beschimpft, muss sie Güllen verlassen und wird Prostituierte. Jetzt kommt sie zurück und möchte sich die Gerechtigkeit erkaufen, schließlich kann sie es sich leisten. Claire bleibt und wartet, während das Dorf unter der Last der Armut langsam, aber stetig ins Chaos stürzt. 

Claires wartende Anwesenheit liegt wie eine dunkle Wolke über Güllen. Sie wartet auf einem Balkon, ist nicht nur allein geografisch über den Dorfbewohnern. Auf der Bühne verweilt sie vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an bis zur Pause auf ihrem Podest. Blättert in der Zeitung, liest, wartet raucht. Während unten das Dorf in Chaos ausbricht und Alfreds Angst wächst, wirkt Claires Ruhe absurd und grausam. Orgesa Bllaca verleiht der alten Dame nicht nur eine hervorragende Bühnenpräsenz, sondern auch eine beeindruckende, kühle und dennoch nahbare Stimme.   

Orgesa Bllaca, Sevastian Shakin, Maral Hadizamani, Paul Liedtke mit Ensemble © Anna-Madlen Gurău

Summend und zischend streift Claires schwarzer Panther umher, die Handlung spitzt sich zu, sogar der Pfarrer ist bewaffnend und auf der Jagd nach dem Raubtier. Der schwarze Panther in »Der Besuch der alten Dame«, ist nicht nur ein Panther. Er trägt wesentlich zur Symbolik des Buches bei. Immer wieder entstehen Parallelen zu Alfred Ill. Schwarzer Panther war schließlich auch der Kosename von Claire für Alfred. Und als Alfred hilfesuchend zum Polizisten kommt, meint dieser, während er sein Gewehr putzt, dass er den schwarzen Panther jage. Daraufhin schreit Alfred: » Mich jagt ihr, mich! « Wenn Alfred also vom schwarzen Panther von seiner Flucht abgehalten wird, wird er ein Stück weit von sich selbst abgehalten. Die tänzerische Darstellung des Waldes und des schwarzen Panthers durch sieben schwarz gekleidete Performer:innen verwandelt die Bühne in einen düsteren Traum – ein choreografischer Volltreffer.

Ein Dorf steht still – und das Publikum gleich mit

Die Geschehnisse in Güllen spitzen sich zu. Ein Reporter:innen-Team trifft ein, Kameras übertragen live auf die Leinwand, jede Regung wird sichtbar – der Druck wächst. Das Publikum wird Zeuge einer Gemeindeversammlung, bei der nicht nur diskutiert, sondern verurteilt wird. Und plötzlich wird klar: Auch der Zuschauerraum ist Teil dieser Inszenierung. Das Publikum muss sich erheben. Alfred Ills Schicksal liegt nun – symbolisch, aber spürbar – in ihren Händen.

Die Inszenierung von der Theatergruppe ARTIFACT zeigt mit kleinen Details wie aktuell die Geschichte der alten Dame doch noch ist. Als das Dorf immer mehr ins Chaos stürzt, ziert irgendwann der Schriftzug »MAKE GÜLLEN GRET AGAIN« das Willkommensschild für Claire. Claires Warten auf die Entscheidung des Dorfes wird von Anrufen von »Donald« und »Elon« unterbrochen. Dadurch spürt das Publikum, dass es sich hierbei nicht nur um eine alte Geschichte von Friedrich Dürrenmatt handelt.

Was wie ein Klassiker beginnt, endet als Spiegel der Gegenwart.
Die Bühne wird zum Schauplatz moralischer Zerreißproben, und das Stück stellt unbequeme Fragen: Was ist Gerechtigkeit – und was kostet sie?
Mit klarem Konzept, mutigen Regieentscheidungen und einem eindrucksvollen Ensemble gelingt ARTIFACT eine Inszenierung, die nachhallt. Beim Publikum bleibt ein bitterer Nachgeschmack – und das Gefühl, selbst Teil einer Entscheidung gewesen zu sein.


Termine und Tickets unter: Reservierung

Beitragsbild: Sevastian Shakin und Ensemble © Anna-Madlen Gurău

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