»Lügen, die wir uns erzählen« von Anne Freytag

»Lügen, die wir uns erzählen« von Anne Freytag
Helene steht an einem Wendepunkt: Nach der Trennung von ihrem Mann, der sie für eine andere Frau verlässt, muss sie sich neu erfinden. Zwischen alten Verletzungen, unerfüllten Sehnsüchten, und gesellschaftlichen Erwartungen sucht sie ihren eigenen Weg. Ein Roman über Neuanfänge, das Loslassen und die Frage, wer man eigentlich sein will.

von Sophie Stigler

Anne Freytags Roman »Lügen, die wir uns erzählen« erzählt die Geschichte von Helene, die von ihrem Ehemann verlassen wird. Eigentlich wollte sie die Ehe selbst für ihre Jugendliebe Alex beenden. Doch als sie nach zwei Fehlgeburten mit ihrer Tochter Anna schwanger wird, entschied sie sich, bei ihrem Mann Georg zu bleiben. Nach 17 Jahren verliebt sich Gerog in Mariam – das komplette Gegenteil von Helene – und zieht aus ihrem gemeinsamen Haus aus. Anna zieht zu ihrem Vater und macht Helene für alles verantwortlich. Jonas, der gemeinsame Sohn, bleibt bei seiner Mutter, da er seinen Vater nicht leiden kann. Helene nutzt die Trennung als Chance für einen Neuanfang, indem sie versucht, sich aus den gesellschaftlichen Erwartungen zu entziehen und hinterfragt, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Sie beginnt, ihren eigenen Weg losgelöst davon zu gehen.


Zwischen Rollenbildern und Erwartungen

Das Buch behandelt die Zeit, in der Helene und Georg versuchen Kinder zu kriegen, die Fehlgeburten und das emotionale Chaos danach. Diese Zeit ist auch der Grund, warum Helene Georg nicht verlassen kann: Er war in der schweren Zeit immer für sie da. Allerdings haben sie sich beide verloren. Als das erste Kind auf dem Weg ist, finden sie wieder zusammen. Doch leider nicht von Dauer: Sie verlieren sich in Erwartungen und Rollenbildern und versuchen, nicht an den gesellschaftlichen Ansprüchen zu ertrinken. Helene versucht weiterhin Karriere zu machen, was sie teilweise an ihre Grenzen bringt. Sie ist eine erfolgreiche Autorin, jedoch werden ihre Erfolge nicht mehr von ihrem Mann wahrgenommen. Georg versucht ebenfalls alles unter einen Hut zu bekommen, wird dem aber nicht ganz gerecht. Er sieht seine Frau lediglich als funktionierende Mutter und vergisst, sie als Mensch wahrzunehmen.

Helene denkt oft an die Zeit mit Alex zurück, oder an die frische Liebe mit Georg. Kurz bevor sie erfährt, dass sie schwanger ist, trifft sie sich mit Alex und will ihren Ehemann für ihn verlassen. Schon der Beginn ihrer Romanze in Paris ist voller Aufregung: Alex möchte mit ihr verschwinden, jedoch entschied sie sich dagegen. Ihre gemeinsame Zeit ist geprägt von einem »Was wäre, wenn?« Diese Frage bleibt bis zum Ende offen.

Die Ketten der Kindheit

Ein wichtiger Fokus liegt auf der eigenen Erziehung von Georg und Helene und wie diese die ihrer Kinder prägt. Sie ist ein wichtiger Baustein beim Erwachsenwerden und Umgang mit den eigenen Emotionen darstellt. Besonders interessant ist dabei die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Helene und ihrer Mutter Sophie. Nachdem ihre Mutter stirbt, kann sich Helene endlich mit ihrem Bruder Henri aussprechen, der immer mehr mütterliche Liebe erfahren durfte als sie.
Eine ähnlich schwierige Beziehung entwickelt sich zwischen Helene und ihrer Tochter. Diese macht sie für den Zerfall der Familie verantwortlich macht, wodurch die Verbindung immer mehr schwindet. Am Ende finden sie wieder zueinander, als Annas Freund mit ihr Schluss macht und sie sich danach sehnt, von ihrer Mutter getröstet zu werden. Auch zwischen Jonas und Georg kommt es zur Versöhnung. Während Jonas das Gefühl bekommt, sein Vater wolle ihn aufgrund seiner Homosexualität zu einem Therapeuten schicken, sieht Georg darin einen Akt der väterlichen Hilfe. Er wollte seinem Sohn die professionelle Unterstützung geben, die er in seiner Kindheit nie hatte. Hier wird deutlich, dass Georg Schwierigkeiten hat, emotionale Nähe zu seinen Kindern aufzubauen, da seine Kindheit von Distanz geprägt war. Helene und Georg müssen lernen, die Ketten ihrer eigenen Kindheit zu durchbrechen und nicht die gleichen Probleme an ihre Kinder weiterzugeben.

Fazit: Zu wenig Tiefe und zu viel Männerpräsenz?

Mir gefällt Helenes Entwicklung und ihr steigendes Selbstwertgefühl. Anfangs war ich Fan von ihr und Alex und hoffte, dass die beiden doch zueinander finden würden. Am Ende war ich jedoch froh, dass es nicht passiert ist. All ihre Interaktionen sind geprägt von einem »jetzt sind sie kurz davor« – und dann wird man doch wieder enttäuscht. Das ist frustrierend! Alex ist genauso wie Helene Autor und verfasst ein Buch über ihre gemeinsame Geschichte, was Helene dabei hilft, endlich mit diesem Hin-und-Her abzuschließen.


Am Ende lässt sie sich wieder auf eine Kennenlernphase mit ihrem Mann ein. Georgs Intention ist dabei nicht ganz klar. Auf mich wirkt es, als hätte er nach der gescheiterten Beziehung mit seiner neuen Freundin Schwierigkeiten damit, alleine zu sein. Zwar betont Helene immer wieder, dass ihre Beziehung nicht so weitergehen könne, wie früher. Doch meiner Meinung nach laufen sie Gefahr, dass genau das passiert. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein solcher Ehekonflikt allein durch mehr Kommunikation und Freiraum gelöst werden kann – hier fehlt es an tiefergehender Aufarbeitung.
Grundsätzlich hätte ich es begrüßt, Helene über einen längeren Zeitraum als unabhängige Frau zu begleiten – frei von Gedanken an Georg oder Alex. Dies hätte ihr die Möglichkeit gegeben, herauszufinden, wer sie ist und was sie sich vom Leben erwartet. Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrer Tochter Anna hätte der Geschichte gut getan.
Das letzte Kapitel, indem sich Helene wieder selbstbewusst in ihrem Körper fühlt und auch Anerkennung für diesen verspürt, hat mir dafür umso besser gefallen: »Ich denke daran, dass Ankommen früher für mich bedeutete, dass man nur einen Schritt entfernt ist vom Tod. Und jetzt ist es ganz anders. Kein Ort, sondern ich. Jemand, der da ist, bis ich sterbe« (S. 379).

Anne Freytags Roman »Lügen, die wir uns erzählen« gelingt es, den innerlichen Konflikt einer Frau im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung darzustellen. Ich bin Fan von Helene und ihrem Weg, sich selbst zu finden. Trotzdem hätte ich mir an einigen Stellen mehr Tiefe, weniger Präsenz der Männer und einen »Wow-Faktor« gewünscht. Trotz allem empfehle ich das Buch gerne weiter.


Titelbild © Sophie Stigler

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