Narziss(mus) – der moderne Mythos?

Narziss(mus) – der moderne Mythos?

Wer auf Instagram, TikTok, oder Podcast-Apps viele Inhalte über das Thema Beziehung oder Trennung konsumiert, stolpert früher oder später über das neue, trendige Attribut, das Ex-Partner:innen zugeschrieben wird: Narzissmus. Was genau damit gemeint ist und ob es wirklich so viele Narzisst:innen gibt, wie die sozialen Medien vermuten lassen, klärt unsere Redakteurin in der heutigen Kolumne.

Seit ich Psychologie studiere, fallen mir Fachbegriffe, mit denen in sozialen Medien um sich geworfen wird, zunehmend auf. Letztes Jahr war es die Winterdepression, die plötzlich jede:r hatte, aktuell ist mein Feed auf allen Apps gefüllt von Menschen, die über die Red Flags ihrer narzisstischen Ex-Partner:innen berichten. Es kommt mir vor, als wären alle im Internet mal mit Narzisst:innen zusammen gewesen. Und anscheinend geht das nicht nur mir so, denn gerade, als ich mich frage, ob es wirklich mehr Narzisst:innen gibt oder diese Wahrnehmung eine meinem Studium geschuldete Frequenzillusion ist, veröffentlicht das ZDF einen Bericht genau zu diesem Thema: »Amateur-Diagnosen im Netz – Der Narzissmus-Mythos bröckelt« lautet der Text von Anna Vezirgenidi. 

Was ist Narzissmus überhaupt? Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstörung?

Wer von Narzissmus in seiner vollsten, ausgeprägten Form redet, stellt sich oft eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (die es übrigens im aktuellen ICD-11-System gar nicht mehr in dieser Form gibt) vor. Namensgebend ist der griechische Mythos des Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt haben soll. Menschen, die mit dieser Störung diagnostiziert werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein sehr hohes Bild von sich selbst haben und viel Aufmerksamkeit und Bewunderung einfordern. Ihnen mangelt es an Empathie und sie erwarten von anderen, dass diese ihnen jeden Gefallen tun. Sie umgeben sich gerne mit ranghöheren Menschen, mit denen sie sich brüsten, bis sie sich jemandem mit noch höherem Rang anschließen können. Sie nutzen ihre Beziehungen dazu, sich selbst noch besser zu fühlen und zeigen Partner:innen oft wenig Empathie. Ihr Selbstwertgefühl ist von der Bewunderung (nicht etwa der Zuneigung) von anderen abhängig, weshalb sie diese so oft einfordern.

Narzissmus gibt es zunächst jedoch auch als Persönlichkeitseigenschaft. Menschen, auf die das zutrifft, erwarten häufig viel von sich selbst, haben besondere Hobbies oder hohe Ansprüche an die Personen, mit denen sie sich umgeben. Auf Kritik reagieren sie stark negativ. Einer der Unterschiede, wie sie sich von der Persönlichkeitsstörung abgrenzen ist, dass ein mäßig ausgeprägter Narzissmus für das Umfeld zwar anstrengend sein kann, aber nicht zwingend zu gröberen Problemen führt.

Was bedeutet Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft?

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung liegt in der Gesamtbevölkerung bei unter 2,5 %. Es ist also auf jeden Fall unwahrscheinlich, dass so viele Ex-Partner:innen aus meinem Feed wirklich eine klinisch (nach ICD-10) diagnostizierbare narzisstische Persönlichkeitsstörung aufweisen. Was natürlich sein kann, ist, dass sie in einem Persönlichkeitstest zu Narzissmus relativ hohe Scores erreichen würden. Narzissmus als Persönlichkeitskonstrukt muss nämlich gar nicht unbedingt etwas Schlimmes sein und er lässt sich recht gut testen. Ein möglicher Test ist das Narcissistic Personality Inventory (NPI), das sechs Faktoren einer narzisstischen Persönlichkeit unterscheidet: Autorität, Selbstsuffizienz, Superiorität, Exhibitionismus (gemeint: allgemeine Tendenz, sich selbst zur Schau zu stellen), Ausbeutung, Eitelkeit, Anspruchsdenken. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass Personen, die sich gerne zur Schau stellen, viel Autorität ausüben und sich leicht tun, andere zu manipulieren, bzw. auszubeuten, in einer Partnerschaft langfristig nicht gut tragbar sind. Aber sind das wirklich so viele?

Also: Gibt es immer mehr Narzisst:innen? 

Der bereits erwähnte ZDF-Artikel nutzt eine neue Studie als Grundlage, die genau die Ergebnisse dieses NPI genutzt hat, um herauszustellen, ob die Zahl an Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsausprägungen tatsächlich gewachsen ist. Analysiert wurden letztlich 1621 unabhängige Stichproben aus 55 Ländern von 1982-2023, die (knapp gesagt) ergaben, dass der Narzissmus über die Zeit eher abgenommen hat.

Warum könnte man den Eindruck haben, dass mehr Menschen narzisstisch sind?

Einen Grund, den die Studie von Oberleitner, Pietsching und Stickel aufführte, den die Wissenschaft als Ausgangspunkt eines vermeintlichen Anstiegs des Narzissmus geglaubt hatte, war die globale Finanzkrise 2008. Auch gab es Studien, z.B. über amerikanische College-Student:innen, die zwar einen Anstieg des Narzissmus zeigten, von der Wissenschaft aber kontrovers diskutiert wurden. Zudem gibt es eine allgemeine Wahrnehmung, dass sich die Generation jüngerer Erwachsener  vermehrt egozentrisch verhält, was der zunehmenden Individualisierung westlicher Kulturen zugeschrieben wird. Die sozialen Medien, auf denen sich alle mit allen vergleichen, können dabei nicht nur die Botschaft überbringen, der Narzissmus in der Gesellschaft nehme zu, sondern gleichzeitig ein Katalysator sein. 

Andererseits könnte man jedoch argumentieren, dass der Eintritt in das Job-Leben der jungen Erwachsenen in einer Rezession (USA) auch von der Entwicklung narzisstischer Tendenzen abhalten könnte. Das ständige Vergleichen auf den sozialen Medien hat einen negativen Einfluss auf das Selbstwertgefühl der Nutzer:innen und so weiter und so fort

Fazit

Man sieht, eine Studie hat herausgefunden, dass der Narzissmus tatsächlich eher eine fallende Tendenz zu haben scheint. Man sieht auch, dass es für den Einfluss auf Persönlichkeitseigenschaften einer heranwachsenden Generation immens viele Einflüsse gibt, die die Wissenschaft zum Teil gerade erst anfangen kann zu untersuchen.Es kann sein, dass Menschen mehr an sich selbst denken und das zum Ende von Beziehungen führt. Es kann sein, dass in einem Jahr eine Studie veröffentlicht wird, die etwas ganz anderes findet. Die Moral dieses Artikels soll aber sein: Nur weil uns etwas auf den sozialen Medien immer und immer wieder begegnet, ist das kein Grund zu glauben, dass dieses Auftreten auch in der realen Welt statistisch signifikant wird. Und deshalb gibt es – wie auch bei der Winterdepression – keinen Grund, online andere Menschen mit Fachbegriffen zu betiteln und zu diagnostizieren. 

Beitragsbild: Ida Müermann

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