Mov:ement: »The Guilty« (2018) – Die Angst sitzt am anderen Ende der Leitung

Mov:ement: »The Guilty« (2018) – Die Angst sitzt am anderen Ende der Leitung

Ein Mann, ein Raum und ein Telefon: Der dänische Thriller »The Guilty« schafft es mit minimalen Mitteln, über die gesamte Spielfilmlänge Herzrasen und Fingernägelkauen bei den Zuschauer*innen zu verursachen. Ein packendes Rätsel, dessen Lösung nicht nur lange im Schatten der Nacht verborgen bleibt, sondern auch immerzu die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Gut und Böse und Schuld und Vergebung verwischt.

von Celina Ford

Kann man* wirklich jede Tat vergeben?

Rotblinkende Lichter, die signalisieren, dass ein Mensch am anderen Ende der Leitung Hilfe benötigt. Computer, in die Personalien eingetippt werden und ein gluckernder Wasserspender, der eine kurze Pause vom Stress am Schreibtisch verspricht: Das ist die Notrufzentrale der Polizei Kopenhagens und das alleinige Setting in einem höchst klaustrophobischen Film.

Der Polizist und Protagonist Ansger Holm (Jakob Cedergren) ist aufgrund eines bevorstehenden Gerichtsverfahrens in den Innendienst strafversetzt worden. Es ist seine letzte Schicht bei der Notruf-Hotline, bevor er sich am folgenden Morgen vor Gericht für einen tödlichen Schusswechsel während eines Einsatzes verantworten muss. Den Menschen, die zu seinem Telefonanschluss weitergeleitet werden, begegnet er in ihrer Notlage nicht unbedingt mit viel Mitgefühl, wie man* es erwarten würde, sondern leitet die Informationen mit einer missgünstigen und kühlen Mine so schnell es geht weiter.

Kurz vor dem Ende seiner Schicht am späten Abend erhält er jedoch einen merkwürdigen Anruf. Eine aufgelöste Frau am anderen Ende der Leitung versucht, ihr Kind zu beruhigen. Nach der anfänglichen Verwirrung kann Holm im Hintergrund eine Männerstimme ausmachen, welche die panische Anruferin harsch anfährt und frägt, weshalb und mit wem sie telefoniere. Geistesgegenwärtig merkt der Polizist, dass etwas nicht stimmt und erfährt durch Ja-oder-Nein-Fragen, dass die junge Frau in einem weißen Transporter entführt wurde und unfähig ist, frei zu sprechen. Holms Monitor zeigt an, dass die Nummer einer gewissen Iben Østergård gehört. Bevor die Verbindung gekappt wird, kann er jedoch noch ihre ungefähre Position ausmachen und schickt sofort eine Streife auf die Autobahn, um nach einem weißen Kleinlaster zu suchen. Da ihm aber weder die Marke noch das Kennzeichen bekannt sind, bleibt die Suche erfolglos.

Holms Computer zeigt neben Ibens Mobilfunk- auch ihre Festnetznummer an, weshalb er beschließt, bei ihr zuhause anzurufen. Tatsächlich nimmt ein kleines Mädchen, Ibens Tochter Mathilde, den Hörer ab und erzählt dem inzwischen selbst fast vor Anspannung zitterndem Polizisten, dass ihr Vater Michael Berg, von der Mutter getrennt lebend, bei ihnen zuhause war und sich heftig mit Iben stritt, bevor er diese packte und aus der Wohnung zerrte. Zudem verbot Berg dem Mädchen, in das Kinderzimmer von Oliver, ihrem Bruder im Säuglingsalter, zu gehen.

Ansgar Holm (Jakob Cedergren) sucht fieberhaft nach der Entführten Iben. © Seventh Row.

Der Verdacht des Polizisten lenkt sich nunmehr auf Berg als Entführer, da dieser in der Vergangenheit bereits durch Gewaltausbrüche aufgefallen ist. Dieser Eindruck verhärtet sich, nachdem zwei Beamte, die Holm zur Wohnung von Iben schickte, ihm eine schreckliche Entdeckung über das Telefon mitteilen.

Obwohl Holms Schicht längst vorbei ist und er sich auf seinen Gerichtstermin vorbereiten müsste, verbarrikadiert er sich zum Unverständnis seiner Kolleg*innen in einem leerstehenden Raum, um weiter an dem Fall arbeiten zu können, den er unbedingt lösen möchte. Und an dieser Stelle unterbreche ich, denn es wäre ein Verbrechen, das Katz-und-Maus-Spiel des zweiten Aktes zu spoilern. Nur so viel: Die Schlüsse, die man* bisher wie Holm gezogen hat, sind kein Abbild der Wirklichkeit. Diese ist leider viel undurchsichtiger und tragischer, als zunächst angenommen.

Ein Spiel mit Nuancen

Das Erstlingswerk des Schweden Gustav Möller hat das Potential, zum Blueprint des modernen Thrillers zu werden: Wenig Exposition, ein geschlossenes Setting und viele, viele Windungen in der Geschichte. Hier einige der Aspekte, die »The Guilty« nervenaufreibender als andere Filme des Genres machen.

Erstens: Die gesamte Handlung passiert in Echtzeit. Das Publikum erfährt alles im gleichen Moment, wie der Polizist Ansger Holm. Das gibt der ganzen Handlung ein hohes Maß an Authentizität. So müssen die Zuschauer*innen beispielsweise die Zeit und Geduld aufbringen, Holm beim Nummernwählen zu beobachten, auf den Verbindungsaufbau zu warten und beide Parteien des Gesprächs und ihre Reaktionen zu hören – eine Tatsache, die in den meisten Filmen ausgespart wird, hier aber enorm wichtig ist, um sich ganz in der Geschichte zu verlieren.

Zweitens: Das Setting in einer Notrufzentrale. Das Zusammenspiel der pulsierenden, roten Lichter der Telefonanlagen mit der beklemmenden Enge dieses fensterlosen und grauen Raums erzeugt eine enorme (An-)Spannung – ja, fast eine Last – die sich nicht nur auf Holm, sondern auch auf die Zuschauer*innen überträgt. Paart man* diese Atmosphäre mit der Realität und dem gängigen Dienstprotokoll in einer solchen Zentrale – langes frustriertes Warten auf Rückmeldungen und den nächsten Schritt – potenziert sich die geladene Stimmung ins Unermessliche.

Drittens: Wir sehen Iben, Michael, Mathilde und die anderen Beamt*innen keine einzige Sekunde des Films. Lediglich mithilfe der Stimmen, die aus dem Telefon dringen, können die Zuschauer*innen versuchen, die Emotionen der Beteiligten zu erahnen. Diese Beschränkung und den Hyperfokus auf einen Sinn hat darüber hinaus auch den Effekt, dass man* gezielt auf Hintergrundgeräusche achtet und jede noch so kleine Veränderung in der Stimme wahrnimmt – jedes Zittern und Schluchzen tönt dann doppelt so laut.

In diesem Fall stimmt das Sprichwort definitiv: Weniger ist mehr. Auch in den USA konnte Möllers Formel überzeugen, denn eine Neuverfilmung – unter anderem mit Jake Gyllenhaal und Ethan Hawke – ist angesetzt.

Alles in allem ist »The Guilty« nichts für schwache Nerven. Man* bekommt zwar keine halsbrecherischen Verfolgungsjagden und Shootouts präsentiert, doch das Kopfkino, welches die ganze Zeit parallel zum Film läuft und nach und nach die Puzzleteile des Familiendramas zusammenfügt, reicht für Ganzkörpergänsehaut allemal aus.

Titelbild: © Cartelera Turia

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