Lautstark: Filmmusik ist nicht gleich Filmmusik – Eine Einführung

Lautstark: Filmmusik ist nicht gleich Filmmusik – Eine Einführung

80% meiner Playlists bestehen aus Filmmusik. Seit Jahren sammeln sich dort die Songs aus Filmen und Serien, die mich auf verschiedenste Weisen beschäftigt haben. Manchmal, aktuell eigentlich täglich, läuft bei mir allerdings auch die komponierte Musik von Künstlern wie Ramin Djawadi, Hans Zimmer oder Trent Reznor und Atticus Ross. Hier kann ich in eine andere Welt abdriften und die Zeit am Laptop vergeht wie im Flug. Was genau meinen wir aber, wenn wir von Filmmusik, Soundtracks und Scores sprechen? Nach einer kurzen Unterscheidung möchte ich vor allem auf den Soundtrack näher eingehen.

von Julian Tassev

Film und Musik sind schon immer eng miteinander verbunden. Selbst die Stummfilme des frühen 20. Jahrhunderts wurden mit einem Klavierspieler auf der Bühne vor der Leinwand vorgeführt. Ist heutzutage eine Szene oder sogar ein ganzer Film nicht von Musik untermalt, stellt dies mehr und mehr eine artistische Entscheidung als eine finanzielle Notlage dar. Es gibt wenig lustigeres als Darth Vader, der ohne Musik hustend durch das Bild humpelt, oder Rocky, der ohne Musik keuchend durch Philadelphia joggt.

Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen dem Filmscore, der Musik, die extra für den jeweiligen Film (oder natürlich die Serie) komponiert, produziert und meistens orchestral aufgenommen wurde, und dem Filmsoundtrack, der bereits existierenden Musik, die im Film zu verschiedenen Zwecken eingesetzt wird. Musik im Film soll Stimmung herstellen, bestimmte Emotionen hervorrufen, Charaktere definieren und Ereignisse kontextualisieren. Normalerweise nur unterstützend eingesetzt, kann Musik aber auch eine frontale Rolle einnehmen und ein gesamtes Filmerlebnis tragen und erheben. Mein Musterbeispiel hier ist wohl die langjährige Zusammenarbeit zwischen Regisseur Steven Spielberg und Komponist John Williams. Mit nur zwei Tönen fegte das »Thema«, das Leitmotiv des Hais in »Jaws« die Strände leer. Filme wie »Schindlers Liste« oder »Indiana Jones« verdanken ihren Status nicht zuletzt ihren unvergesslichen Melodien.

Ein weiterer Vertreter dieses Ansatzes ist natürlich Christopher Nolan, dessen Kooperation mit Hans Zimmer einige meiner persönlichen Favoriten hervorgebracht hat. Allerdings ist es im Moment Ludwig Göranssons außergewöhnlich digital verzerrter Score zu »Tenet«, der mich nicht loslässt. Auch hier vollrichtet die Musik einen Großteil der Arbeit. Wo wir bei Newcomern sind, auch die Musik von Hildur Guðnadóttir soll hier eine Erwähnung erhalten. Ohne ihre schaurig schönen Cello-Klänge bleibt von »Joker« nicht viel über und selbst »Chernobyl« wurde dank ihr noch eine Stufe besser.

Die Diegesis

Kommen wir nun zum schwierigen Teil, der Filmtheorie: Was Scores ausmacht und was sie erreichen können, wissen wir nun. Wie funktionieren also Soundtracks? Nimmt man* einfach einen coolen Song, wirft ihn in die vermeintlich passende Szene und wie von Zauberhand wird man* dadurch zu Quentin Tarantino?

Beim klassischen Needle-Drop, also dem Einsatz eines Songs im Film, unterscheiden wir erst einmal anhand des erzähltheoretischen Begriffs der Diegese (abgewandelt aus dem alt-griechischen), ob die Musik in der Realität des Films existiert oder nicht. Hören die Figuren des Films die Musik, ist sie diegetisch. Nehmen nur wir die Musik wahr, ist sie nicht-diegetisch. Ein diegetischer Song kann uns oft etwas über den aktuellen Gemütszustand und die Emotionen eines Charakters sagen. Als klassische Instrumente müssen hier natürlich das (Auto-)Radio und die Jukebox genannt werden. Dem Radio kommt hierbei fast eine übernatürliche Rolle zu, spielt es doch eigentlich zufällige Musik, nur um im perfekten Moment den perfekten Song für unsere Figuren zu finden. Die Jukebox (oder heute eher eine Audioanlage) hingegen stellt eine Kräfte-Dynamik her, wenn eine Figur damit eigenhändig die Kontrolle über den Soundtrack übernimmt und damit die Stimmung für die Szene bestimmt. So zum Beispiel in der Schlussszene von Barry Jenkins´ »Moonlight« oder auch über-kitschig am Ende von »Top Gun«. Beide Ansätze verschmelzen, als Shaun und seine Freunde am Ende von Edgar Wrights Horror-Satire »Shaun of the Dead« ihren Lieblingspub gegen eine Horde Zombies verteidigenP plötzlich spielt die Juke Box wie von Geisterhand Queens »Don´t Stop Me Now« und der Spaß kann beginnen.

Um bei Edgar Wright zu bleiben: Sein Film »Baby Driver« treibt die Idee der Kontrolle der Filmmusik auf die Spitze. Unser Protagonist Baby hört rund um die Uhr Musik, um seinen Tinnitus auszublenden. Dies führt natürlich dazu, dass jede Szene durch die Musik auf einem seiner vielen iPods vorangetrieben wird. An manchen Stellen muss der Film tatsächlich auf ihn warten, da er den perfekten Song zum Auto fahren braucht.

Subjektiv vs. Objektiv

Hier ein Beispiel, wie man* es nicht machen sollte: In David Ayers grotesk inkompetenter (Anti-)Superhelden-Farce »Suicide Squad« wird ein Gefängnis in New Orleans gezeigt. Welches ist der erste Song, der einem hier in den Kopf springt? Richtig, für etwa 15 Sekunden wird »The House of the Rising Sun« von The Animals angespielt. Die völlig durchgeknallte Harley Quinn wird eingeführt? Spielen wir Rick James´ »Super Freak«, damit es auch jeder kapiert. Aber selbst Veteranen wie Robert Zemeckis machen sich hier gelegentlich schuldig. Im universell geliebten »Forrest Gump« wird Forrest nach Vietnam geschickt, und in der ersten Szene läuft nichts anderes als »Fortunate Son« von Creedence Clearwater Revival. Ein Song, DER Song, der seit 20 Jahren für den Vietnam-Krieg stand.

Man kann also mit dem Soundtrack so einiges falsch machen. Hinzu kommt, dass vermutlich jeder interessante Song bereits genutzt wurde und viele so eng mit bestimmten Filmszenen verknüpft sind, dass es besonders schwierig wird, sie in einem neuen Kontext zu verorten.

Zwei unumstrittene Meister des Needle-Drops im Film sind Martin Scorsese und Quentin Tarantino. Bis auf einige Ausnahmen (zum Beispiel Bernard Herrmanns brillanter und mehrfach ausgezeichneter Score zu »Taxi Driver«) verlassen sich beide Regisseure in ihren Filmen auf ein paar Dutzend geniale Songs. Diese Songs sind nicht einfach hip und cool, und selten die offensichtliche Wahl, sondern ermöglichen oft eine völlig neue Betrachtungsweise auf die Geschehnisse im Film. Dabei vertreten beide Filmemacher noch einmal unterschiedliche Ansätze: Scorsese nutzt seine Songs vermehrt in subjektiver Form, also als Einblick in die Psyche einer seiner Figuren. Dies hilft uns dabei, uns mit diesen oftmals abscheulichen Menschen und ihren kriminellen Machenschaften besser identifizieren zu können. So spiegelt zum Beispiel der Soundtrack in »Goodfellas« die emotionale Verfassung des Protagonisten und Erzählers Henry Hill wider. Zu Beginn seiner Gangster-Karriere bombardiert uns der Film mit freudigem 60er Jahre Pop. Als Henry dann wenig später den Drogen verfällt wird daraus Classic Rock und gegen Ende seiner Geschichte von Mord, Drogen und Waffen wird daraus hektischer, zehrender psychedelischer Rock.

Tarantino hingegen benutzt seinen Soundtrack – am Beispiel »Once Upon a Time… in Hollywood« illustriert – grundsätzlich einmal als Anker für das im Film dargestellte Jahr. Dies ist vermutlich die wichtigste und am meisten genutzte Funktion einer guten Musikauswahl. Zusätzlich kommentiert er allerdings mit seinen Songs die Story und die Charaktere eher in einer objektiven Form. Als Rick Dalton samt neuer Frau und Cliff Booth nach einem längeren und sehr erfolgreichen Aufenthalt in Italien zurückkehren, startet »Out of Time« von den Rolling Stones. Nicht nur droht mit der Rückkehr die langjährige Freundschaft zwischen den beiden Männern ihr Ende zu finden. Viele ahnen schon, dass die kommende Nacht auch das Ende des Lebens von Sharon Tate bedeuten wird, die von Anhängern der Manson-Familie hochschwanger ermordet wurde. Schließlich könnte man* argumentieren, dass Tarantino mit seiner Version der Ereignisse die Geschichte neu schreibt und sich damit außerhalb unserer Zeit begibt.

Hoffentlich konnte ich euch einen kurzen Überblick über die verschiedenen Formen von Filmmusik verschaffen. Außen vorgelassen habe ich diesmal Musicals, Musikfilme wie »Whiplash« oder auch Biografien wie »Bohemian Rhapsody«. Auch die Kunst (ja, auch Trailer sind Kunst) der Trailer-Musik verdient eine eigene Untersuchung.      

Beitragsbild: © Sony Pictures

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