Kann Rassismus positiv sein?

Kann Rassismus positiv sein?

Dieser Artikel erschien bereits in einer gekürzten Version in der digitalen Ausgabe der Lautschrift, die Ihr hier finden könnt.

Bin ich RassistIn, weil ich das Fehlverhalten eines Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe weniger streng beurteile als normalerweise? Fällt es nicht auch unter Ungleichbehandlung, benachteiligten Gruppen explizite Vorteile in den Bereichen Bildung und Beruf zu gewähren, wie es inzwischen in vielen Antidiskriminierungspolitiken vorgesehen ist? Was ist eigentlich Diskriminierung? Die Lautschrift hatte sich bereits für die neue Ausgabe mit Dr. Jan-Christoph Marschelke von der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft der Uni Regensburg über genau diese Fragen unterhalten. Hier gibt es nun das ganze Interview.

von Lotte Nachtmann

Was genau bedeutet der Begriff Rassismus, wo kommt er her und wann tauchte er zum ersten Mal auf?

Was der Begriff genau »Rassismus« bedeutet, ist sehr umstritten. Vielleicht fangen wir mit dem Begriff »Rasse« an. Der kommt etymologisch von dem arabischen Wort »raz«, was soviel wie »Anführer«, aber auch »Ursprung« heißen soll. Und aus dem Lateinischen »radix« für »Wurzel«. Der Rassebegriff taucht wohl im 15. Jahrhundert erstmals vermehrt im Zusammenhang mit Adelsfamilien und in der Pferdezucht auf. Im Zuge der spanischen Reconquista wird der Begriff vermutlich zum ersten Mal zur Unterscheidung von Menschengruppen verwendet, konkret um eine Unterscheidung zwischen ChristInnen und Jüdinnen und Juden zu treffen, später dann von MuslimInnen. Die biologistische Verwendung beginnt dann erst ab dem 18. Jahrhundert

Der Begriff »Rassismus« hingegen ist viel jünger. Er taucht erst in den 1920er-Jahren auf und wird vor allem von denjenigen verwendet, die ihn bekämpfen. Seine Bedeutung ist, wie gesagt, jedoch umstritten. Der kleinster gemeinsamer Nenner ist wohl die Auffassung, dass Rassismus erstens die Unterscheidung menschlicher Kollektive meint, die dabei zweitens wertend und hierarchisierend verfährt. Jenseits dieses kleinsten gemeinsamen Nenners kann man grob vielleicht drei Rassismusbegriffstypen unterscheiden: Einer stellt das biologistische Kriterium in den Mittelpunkt. Bei Rassismus werden also die menschlichen Kollektive nach vermeintlich natürlichen Eigenschaften unterschieden, die unveränderlich und vererbbar sind. Das ist ein sehr enger Begriff. Es gibt auch einen ganz weiten, der im Grunde jegliche wertende Unterscheidung zwischen Eigenem und »Fremdem« als Rassismus bezeichnet. Und dann gibt es vermittelnde Auffassungen. Der US-amerikanische Historiker George Marsh Fredrickson vertritt beispielsweise folgende Definition: Entscheidend ist nicht, ob das Unterscheidungskriterium als biologisch oder »natürlich« bezeichnet wird. Entscheidend ist, ob das Kriterium so gebildet wird, dass die Grenze quasi unüberwindbar wird. Sprich, dass Menschen die Kollektive nicht wechseln können. Nach dieser Auffassung könnten Menschen einer anderen Kultur letztlich niemals ganz assimiliert werden, also vollwertiges Mitglied des »eigenen« Kollektivs werden. Und diese Auffassung ist, glaube ich, zumindest implizit ziemlich weit verbreitet.

Wo liegt der Unterschied zwischen Rassismus und Diskriminierung?

Das kommt wiederum darauf an, was man unter den Begriffen versteht. Ich könnte Rassismus als geistiges Konstrukt verstehen, als Weltanschauung. Dann könnte ich davon trennen, ob jemand diese Weltanschauung in die Tat umsetzt und andere diskriminiert. Versteht man indes – und das ist mir sympathischer – Rassismus als einen Komplex aus Praktiken, dann ist Diskriminierung immer schon Teil des Rassismus. Davon abgesehen kann ich meine Mitmenschen freilich aus Gründen diskriminieren, bei denen viele Menschen nicht zuerst an Rassismus denken: zum Beispiel aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihrer Schichtzugehörigkeit. In diesem Sinne würde Diskriminierung jede nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung umfassen.

Was bedeutet dann im Umkehrschluss positive Diskriminierung und ist der Ausdruck nicht ein Widerspruch in sich selbst?

Ja, ist er wohl. Wenn man Diskriminierung als eine Ungleichbehandlung definiert, die sich nicht rechtfertigen lässt, dann wäre die positive Diskriminierung keine Diskriminierung, weil es für sie ja – jedenfalls aus Sicht ihrer BefürworterInnen – sehr gute Rechtfertigungsgründe gibt. Diese Widersprüchlichkeit ist aber durchaus aussagekräftig. Sie macht deutlich: Auf der einen Seite suspendieren wir die sonst üblichen und vermeintlich »neutralen« Kriterien (zum Beispiel die »Leistung« bei einer Stellenvergabe) zumindest teilweise, um einer sozialen Asymmetrie entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite beruht diese Asymmetrie aber letztlich auf wirklichen, also negativen, Diskriminierungen.

Ich würde Ihnen gerne von einem kurzen persönlichen Erlebnis berichten: Ich fuhr abends mit dem Rad nach Hause. Es war bereits dunkel und es fiel ein mäßiger Schneeregen, sodass die Sicht eingeschränkt war. Plötzlich trat zwischen den neben dem Radweg parkenden Autos ein Fußgänger auf den Weg. Da ich nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, stürzte ich mit dem Rad. Noch bevor ich die Situation versuchte einzuschätzen, begann ich mich lauthals über die Unachtsamkeit des Passanten zu beschweren. Da merkte ich, dass dieser Passant dunkelhäutig war und sofort tat es mir leid, dass ich ihn so angefahren hatte. Ist das, Ihrer Einschätzung nach, bereits positiver Rassismus?

Bei solchen Situationen weiß man ja häufig nicht so genau: Ist das »Mitleid« nicht vielleicht zu sehr großen Anteilen eher Angst vor sozialer Sanktion? Sprich: Ich weiß, Rassismus ist böse und ich fürchte, Außenstehende könnten mich für eine Rassistin halten oder mich öffentlich als Rassistin beschimpfen. Das will ich natürlich nicht. Oder ist es wirklich die Überlegung: »Oh nein, jetzt habe ich jemanden angegangen, von dem ich ziemlich sicher bin, dass sie oder er auch sonst ziemlich häufig einstecken muss.« Alltags- und institutioneller Rassismus sind schließlich weit verbreitet.

Was ist aber mit dem letzteren Fall, also ich meckere nur deshalb nicht, weil ich jemanden »schonen« möchte? Ist das positiver Rassismus? Das kann man sicherlich vertreten. Ich würde aber zumindest auch zu bedenken geben wollen, ob so ein Verhalten nicht – vielleicht nicht bei Ihnen, aber bei anderen – eine sublime Form der Nichtanerkennung darstellt. Also: Der Passant hat nicht aufgepasst. Das hätte er aber tun müssen, egal welche Hautfarbe, und wenn er Sie dadurch gefährdet, dann ist Meckern das mindeste, was Sie dürfen. Hätten Sie das nicht getan, weil diese Person eine andere Hautfarbe hat, hätten Sie diese Person jedenfalls nicht »normal« behandelt. Um auf das Stichwort »Anerkennung« zurückzukommen: Vermeintlich positive Formen von Andersbehandlungen können sich in bestimmten Konstellationen auch so darstellen, dass die anders behandelte Person nicht als gleichwertig behandelt wird, etwa als nicht kritikfähig oder ähnliches.

Ich habe immer den Eindruck, dass Rassismus und Diskriminierung so alt sind wie die Menschheit selbst. Positiver Rassismus oder positive Diskriminierung hingegen moderne, wenn nicht sogar postmoderne Erscheinungen.

Diskriminierung ist sicherlich so alt wie die Menschheit selbst. Ob das für Rassismus auch zutrifft, darüber streitet man. Ein ganz klassischer Streit ist zum Beispiel, ob es in der Antike bereits Hautfarbenrassismus gab. Meines Wissens sagen die meisten HistorikerInnen »Nein, eher nicht«. Oder man kann fragen, ob die altgriechische Kategorie der »Barbaren« eigentlich rassistisch war. Das hängt natürlich auch davon ab, ob man einen eher engen oder eher weiten Begriff von Rassismus vertritt. Aber auch wenn man den Rassismus für ein geradezu anthropologisches Phänomen halten möchte, scheint mir schon wichtig zu berücksichtigen: In der rigorosen und systematischen Form, wie sich Rassismen in der Moderne entwickeln, beispielsweise in Form von wissenschaftlichen Theorien und Säuberungspolitiken, das gab es so und in dem Ausmaß vorher sicherlich nicht.

Was positiven Rassismus oder positive Diskriminierung angeht, mag man vereinzelte Gegenreaktionen schon mit dem Aufkommen des Rassismus in der Moderne nachweisen können. Aber in der Form, wie wir das heute diskutieren, sind sie dann ein spätmodernes Phänomen. Dafür spräche, dass sie eigentlich auf einem Gleichheitsverständnis beruhen, das möglicherweise nie zuvor so weite Verbreitung und eine so differenzierte Diskussion erfahren hat.

Diskriminierung bestimmter Gruppen hat ja viel mit dem Abgrenzungsverhalten eines Kollektivs und seiner Identitätsbildung zu tun. Stellen Maßnahmen positiver Diskriminierung demnach nicht eine Gefahr für das Kollektiv dar?

Das kommt auf Folgendes an: Stellen Sie sich ein Kollektiv vor, das zweigeteilt ist. Eine Hälfte ist progressiv und offen, die andere ist rassistisch. Diese zweite Hälfte stärkt ihre Identität damit, dass sie bestimmte Menschen ausgrenzt und abwertet. Wird deren Identität durch positive Diskriminierung der Ausgegrenzten bedroht? Ja. Die konstruieren sich ihre Identität ja gerade durch ihre vermeintliche Überlegenheit, und was an dieser Konstellation rüttelt, ist bedrohlich. Und die erste Hälfte? Sie fühlen sich wohl eher nicht bedroht. Vielleicht sind die sogar besonders stolz darauf, dass sie Benachteiligten in besonderem Maße helfen. Wenn Sie eine Analogie zur Geschichts- und Erinnerungspolitik ziehen wollen: Es gibt in Deutschland viele Menschen, die sind stolz auf ihre deutsche Identität und zwar im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und aktiven Erinnerung an Geschichte des Nationalsozialismus, damit sich vergleichbares nicht wiederholt. Diesen Teil der Vergangenheit als »nationale Katastrophe« zu erinnern, empfinden sie für die Art und Weise, wie sie sich mit der Kategorie »deutsch« identifizieren, nicht als bedrohlich, im Gegenteil. Aber es gibt auch immer noch (und wieder) Leute, die empfinden genau diese Einstellung als nationale Schande.

Halten Sie Maßnahmen positiver Diskriminierung in Deutschland für zielführend oder eher kontraproduktiv? Beispielsweise die Bevorzugung von BewerberInnen mit Migrationshintergrund für bestimmte Stellen im öffentlichen Dienst?

Es gibt gute Gründe, warum das Thema so umstritten ist. Insgesamt sympathisiere ich mit dem Ansatz, vor allem aus drei Gründen: Erstens, wird nach wie vor bei Einstellungen ebenso wie bei anderen Situationen, wo eine Auswahl stattfindet, diskriminiert. Vielfach – das ist ja das tückische an allen Arten von Stereotypen – merken das die Diskriminierenden ja nicht mal richtig. Sie sind davon überzeugt, sie seien fair und neutral gewesen. Also bedarf es eines Gegengewichts, eben durch positive Diskriminierungen, Quoten und so weiter. Zweitens kann es für Menschen, die Diskriminierung erfahren, hilfreich sein, positive Beispiele vor Augen zu haben. Ja, man kann es schaffen, Ministerin, Vorstandsvorsitzende(r), PolizistIn, professionelle(r) KünstlerIn zu werden. Und drittens bewirkt institutioneller Rassismus sicherlich bei nicht wenigen Leuten, dass sie beispielsweise Behörden nicht wirklich trauen, beziehungsweise nicht erwarten, dass sie dort fair behandelt werden – und zwar weil sie Angehörige einer diskriminierten sozialen Kategorie sind. Da kann ein öffentlicher Dienst, der durch positive Diskriminierung diverser gemacht wird, ein Stückweit helfen. Bei positiver Diskriminierung geht es aber nicht nur um Vertrauen in diese Einrichtungen des öffentlichen Dienstes, sondern auch um Ressourcen: Habe ich MitarbeiterInnen mit bestimmten Sprachkenntnissen oder Erfahrungen mit einer bestimmten Religion und so weiter?

Ich will aber nicht verhehlen, dass es auch Argumente gibt, die mich zweifeln lassen. Damit meine ich gar nicht so sehr die rein konsequentialistische Überlegung, dass solche Politiken möglicherweise Leute wütend machen, die dann rechtspopulistisch wählen oder noch viel Schlimmeres anstellen. Ein Gegenargument, dass ich aber tatsächlich gewichtig finde, ist, dass solche Politiken, insbesondere wenn es um so etwas schwammiges wie den »Migrationshintergrund«  geht, implizit auf der Auffassung beruhen: »Diese Leute sind schon anders«. Nehmen wir mein Ressourcenargument. Dahinter steckt ja auch die Idee: Wir brauchen eine »türkische« Mitarbeiterin; die kann dann bestimmt gut mit den »türkischen« KlientInnen unserer Behörde kommunizieren. Das unterstellt: Die sind ja irgendwie schon in gewichtiger Hinsicht alle gleich. Sind sie aber nicht. Wieso sollte also die sozialistische, atheistische Karrierefrau besonders gut mit der konservativ-religiösen Hausfrau reden können, nur weil ihre Nachnamen vielleicht zur gleichen Sprache gehören? Man muss darauf achten, dass man mit Maßnahmen zur positiven Diskriminierung erstens nicht genau die Unterscheidungskriterien perpetuiert, die die positive Diskriminierung erst notwendig gemacht haben. Und zweitens dass man damit nicht einer Viktimisierung und Stigmatisierung Vorschub leistet: »Die Armen brauchen das, weil sie es alleine nicht können.«

Um zum Schluss noch auf etwas »harmlosere« Begriffe wie Stereotypen oder Vorurteile zu sprechen zu kommen: Beide können ja negativ, aber eben auch positiv ausfallen. Zum Beispiel das Vorurteil, Franzosen seien Romantiker. Aber auch positive Vorurteile bleiben Vorurteile. Sind sie daher per se abzulehnen?

Ich antworte mal mit meiner persönlichen Geschichte: Bis ich mich mit dem Thema »Interkulturalität« auseinandergesetzt habe, habe ich bestimmt über jeden Witz gelacht, den man über andere Nationalitäten oder ähnliches gemacht hat. Dann also kam das Thema »Interkulturalität« und ich habe mich vor allem in der Lehre unentwegt mit dem Thema »Stereotypen und Vorurteilen« auseinandergesetzt. Und irgendwann habe ich bemerkt: Ich kann über diese Witze nicht mehr lachen. Vielleicht ist das verklemmt. Aber ich habe immer das schale Gefühl: Diese Witze und das Lachen über sie, das ist das, was der Sozialpsychologe Michael Billig mal »banal nationalism« genannt hat. »Nein, natürlich sind wir alle keine NationalistInnen und RassistInnen. Keinesfalls. Aber jedes Kind weiß doch: Es gibt Nationen, und deren Angehörige sind sich ja doch irgendwie ähnlich und im Vergleich zu uns sind sie schon anders. Macht nix. Ist ja auch schön. Wäre doch langweilig, wenn alle gleich wären.« Aber wie eine Studentin in einem Seminar mal so treffend sagte: »Wehe, wenn man diese schöne, vermeintlich so harmlose Hintergrundüberzeugung mal ernsthaft zur Disposition stellt.« Und so sehe ich das tendenziell auch mit den positiven Vorurteilen. Sie sind häufig Ausdrucksformen eines banalen Nationalismus. Das ist für sich genommen nicht schrecklich schlimm. Dahinter steckt aber die Unterscheidung von menschlichen Kollektiven nach ethnonationalen Kriterien und wertende Zuschreibung von Eigenschaften.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube nicht, dass wir kategorische Unterscheidungen und Zuschreibungen an sich abschaffen können. Ich arbeite nicht zuletzt deshalb an einer Forschungsstelle, die »Kollektivwissenschaft« im Namen trägt, weil ich glaube, dass wir Menschen uns immerfort kollektivieren. Wir brauchen das wohl, nur so bringen wir Ordnung in das uns umgebende Chaos. Aber ich meine, dass jede dieser Kategorisierungen prekär, also potentiell gefährlich, ist und wir stets in der Lage sein sollten, sie zu hinterfragen.

Seit diesem Semester ist es an der Uni Regensburg möglich, Kollektivwissenschaft auch als Frei Kombinierbares Nebenfach zu studieren.

Beitragsbild: © Unsplash, Alexis Fauvet

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