Wohnen mit Kant

Wohnen mit Kant

Es ist mal wieder Prüfungsphase. Die Devise lautet also Prokrastination. Kein Problem im Kasernenviertel, wo hellhörige Wände und lebhafte Nachbarn einem gar keine andere Wahl lassen.

von Lena Alt

Dieses Semester habe ich ein Seminar zu Kants Rechtsphilosophie besucht. Für die unter euch, die mit Immanuel Kant nicht so vertraut sind (denn mal ehrlich, wer ist das schon?), hier ein kurzes Update: Kant führt seine politischen Ideen immer wieder auf seine Vorstellung von Freiheit zurück. Damit jeder Mensch gleichermaßen frei ist, braucht es in einer Gesellschaft gewisse Gesetze, an die sich jeder halten muss. Ganz wichtig ist zum Beispiel, dass man den Freiheitsbereich eines anderen nicht betritt. Ansonsten ist jeder frei in dem, was er tut.

In besagtem Seminar kam mir immer wieder der Vergleich mit einem Mehrparteienhaus in den Sinn. Jeder hat seine eigenen vier Wände, in denen er grundsätzlich tun kann, was er will. Aber niemand darf einfach so in die Wohnung eines anderen hinein. Eigentlich ein schlüssiges und logisches Bild. Aber je mehr ich in meinen vier Wänden, die sich in einem Mehrparteienhaus befinden, darüber nachgedacht habe, desto weniger schien es zu passen. Das Problem ist nämlich, dass ich beim Nachdenken immer wieder gestört werde, obwohl niemand anderes in meiner Wohnung ist. Nur ich. Allerdings ist offensichtlich auch jeder meiner Nachbarn in seiner Wohnung, und macht dort (ganz im kantischen Sinne?), was er will. Links nebenan laute Musik, rechts nebenan Kindergeschrei. Über mir Klavierspiel, unter mir wird die Küche renoviert. Gegenüber klopft die Polizei, weil meine demente Nachbarin ihren Kindern nicht die Tür aufmachen möchte. Der Polizei will sie die Tür aber auch nicht aufmachen. Als die Polizei die Anwesenheit meiner Nachbarin endlich als erwiesen ansieht, weil sie lautstark verkündet, dass sie nicht da ist (ja tatsächlich, ein geschrieenes »Ich bin nicht da, gehen Sie weg« wirkt anscheinend Wunder), versammelt sich die ganze Nachbarschaft auf dem Flur, um zu besprechen, wieso die Polizei denn nun da war. Als hätte das nicht jeder gehört. Wenn das endlich zu Genüge erörtert ist, gehen alle wieder in ihre Wohnungen zurück und machen mit dem weiter, was gerade unterbrochen werden musste. Allerdings nicht, ohne zu betonen wie unverschämt hellhörig dieses Haus ist. Ach was. Und ich sitze dazwischen und denke über Kant nach. Oder eben auch nicht, denn wie soll ich einen klaren Gedanken fassen, wenn um mich herum alles so laut und gleichzeitig aber auch so spannend ist? Welche Musik hört mein linker Nachbar am liebsten? Wie viele Kinder schreien eigentlich rechts von mir? Zum Glück hat sich über mir jemand Klavier als Instrument ausgesucht, und nicht Blockflöte oder Schlagzeug. Und welche innovativen Erweiterungen bekommt die Küche unter mir? Eine Spülmaschine vielleicht? Kann ich auch eine haben? Die meisten dieser Fragen würde Kant gar nicht gutheißen, glaube ich. Betrifft ja alles die persönliche Freiheit von anderen. Geht mich also nichts an. Aber im Kasernenviertel gibt es nunmal kaum Privatsphäre, und wer kennt schon Kant?

 

Bevor ich allerdings in hochphilosophischen Gedanken oder inmitten dieser Geräuschkulisse den Verstand verliere, gebe ich noch schnell weiter an Regina und ihren alltäglichen Wohnsinn weiter.

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