Stories | Das Lebensende ein Oxymoron

Stories  | Das Lebensende ein Oxymoron

Es würde schnell gehen, hatte er gesagt, nur eine Ampulle, eine Überdosis Phenobarbital. Wenn sie wolle, könne sie vorher ruhig ein Glas Wein trinken, zur Beruhigung. Es würde jetzt nichts mehr ausmachen, warum sich also nicht ein letztes Mal dem Laster hingeben?

Sie hatte die Furcht schon lange verloren. Es war ein harter Kampf gewesen, immer wieder hatte die Angst sie eingeholt und zu Boden gerungen, ihr den Mund zugehalten und sie gefügig gemacht, empfänglich für die Tränen ihrer Kinder, die noch immer nicht bereit waren, ihre Mutter an das Jenseits zu verlieren. Sie hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen und die Wut, vor allem die Wut. Sie zu verlassen, sie einfach so zurückzulassen in einer Welt, die nie wieder die gleiche sein konnte wie zuvor, in der ein düsterer Schatten ihr stetiger Begleiter werden würde. Und sie hatte sich ihnen ergeben. Nein, noch ist es nicht soweit, eine Weile schaffe ich es noch, hatte sie gedacht, während ihre Lungen sich mit Flüssigkeit füllten. Und so wartete sie, blieb als schlechte Kopie ihres einstigen Wesens Teil dieser Familie, ernährt durch Schläuche. Jeden Tag kam ihr Hausarzt, durch die Schicksalsgemeinschaft zum Freund geworden, um den Schleim abzusaugen, der sie nachts nicht schlafen ließ. Morgens putzten die Kinder ihr die Zähne und lasen ihr aus den Astrid Lindgren-Büchern ihrer Kindheit vor, bevor sie zur Schule mussten. Nachmittags trug ihr Mann sie in einen Liegestuhl auf die Terrasse, wo sie sich stundenlang am Rot des Klatschmohns satt sah. Sie waren zufrieden mit diesem Arrangement. Sie zogen die halben Sachen den Alternativen vor und machten es sich bequem in ihrer tragischen Routine.

Wochen vergingen. Das Lebensende ein Oxymoron, bedeutete es doch eigentlich den Beginn von etwas Unerträglichem, Schmerzhaftem, das viel zu lange dauerte. Und wenn es dann vorbei ist, werde ich es nicht merken, mich nicht daran erinnern. Also wartete sie ungeduldig darauf, dass das Ende des Lebens ein Ende habe.

Sie erwachte, als ihr Mann, ihr geliebter Mann, angegraut und müde, ihr sanft über den kahlen Kopf strich. Seine gütigen Augen waren stumm geworden durch die Jahre der zerschlagenen Hoffnungen. Guten Morgen, wollte sie sagen. Sagte sie. Doch was an Worten ihren Mund verließ, war ein wirres Knäuel unverständlicher Silben. Noch einmal: Guten Morgen. Der zähe Brei sinnloser Laute stand zwischen ihnen und füllte seine Augen mit unverhohlener Angst.

Eine Fahrt ins Krankenhaus und quälend lange Untersuchungen später empfing sie resigniert ihre neuerliche Diagnose. Die Übelkeit vom Kontrastmittel hatte sie geschwächt und schläfrig gemacht, sie konnte nicht einmal weinen. Und ändern würde es sowieso nichts mehr, höchstens beschleunigen, was schon lange dem Untergang geweiht war. Aber die Symptome machten ihr Angst. Eingesperrt zu sein in einem gebrechlichen Körper, damit hatte sie sich abgefunden. Doch es würde weitere Sprachaussetzer geben, das hatte der Arzt deutlich gesagt. Verbannt in die Isolation, unfähig zu reden, ihr Ende zu besiegeln. Des Auswegs beraubt, der so lange ihr Hoffnungsträger gewesen war. Nein, sie wollte nicht den Tod, den ihre Tumore ihr zugedacht hatten. Sie wollte ihr eigenes Ende schreiben, sanft und leicht, im Kreise der Familie, zu Hause.

Als er an diesem Tag an der Tür klingelte, um ihr das Atmen zu erleichtern, trug sie ein friedvolles Lächeln auf dem gezeichneten Gesicht. Sie hatte ihr rotes, mit Spitze verziertes, Kleid angezogen, das sich wie eine zweite Haut um ihren abgemagerten Körper legte, und Lippenstift aufgetragen. Heute würde sie ihn darum bitten. Er hatte es ihr erklärt, vor Wochen. Phenobarbital. Sie würde einschlafen und nie wieder aufwachen. Wie bei einem Tier, hatte sie gedacht, einem Haustier, das man nicht leiden lassen würde. Ein Privileg, das man dem Menschen nicht zugestehen wollte. Und doch würde er es tun. Sie hatte genug, war bereit für das Ende des Lebensendes.

 

Geschrieben von: Lena Schweizer

 

 

 

 

 

 

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